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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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wo ihnen ein Feld für eine den ganzen Körper erfrischende Wirksamkeit ge¬
boten war, lag den Männern von 1829 ebenso fern, wie den Politikern der
Gegenwart, mit dem Unterschied jedoch, daß jene der Frage mit einer ge¬
wissen Unbefangenheit gegenüber standen, während heutigen Tages, nachdem
Toqueville seine mahnende Stimme erhoben hat. das wohlgefällige Beharren
auf den alten Irrthümern den traurigen Beweis liefert, daß die Routine
in Frankreich eine Macht ist, an der alle Pfeile der einsichbvollsten Kritik
fruchtlos abprallen.

Indessen läßt sich nicht verkennen, daß, trotz mancher Mißgriffe, der par¬
lamentarische Liberalismus grade in dieser Periode den Versuchungen, sich ins
Ungemessene zu verlieren, einen für französische Verhältnisse ungewöhnlich
kräftigen Widerstand entgegengestellt hat. Schließlich aus den Schranken, die
er sich selbst gesetzt hatte, durch die Macht der Zeitumstände herausgerissen,
bewahrte er in der entscheidenden Krisis doch noch die Kraft, das monarchische
Princip aus den Stürmen einer Revolution zu retten, die ihre unwidersteh¬
liche Kraft vorzugsweise den an ihr betheiligten republikanischen Elementen
verdankte; im Vertrauen auf die kräftig bewährten monarchischen Tendenzen
des Liberalismus glaubte man daher, nachdem die Wogen der Revolution sich
bald gelegt, das neue Regiment sich rasch und sicher consolidirt hatte, einer
ruhigen Periode ungestörter, friedlicher, segensreicher Entwickelung entgegen¬
sehen zu können, mußte aber bald die Erfahrung machen, daß breite Schich¬
ten der Gesellschaft von revolutionären Trieben beherrscht waren, deren Ge¬
walt um so mehr überraschte, da man kaum von ihrem Dasein eine Ahnung
gehabt hatte. Dies nöthigt uns, einen Blick zu werfen auf die während der
Bourbonenherrschast im Stillen wirkenden Kräfte, die, aus unbedeutenden An¬
fängen allmälig erstarkend, doch noch viel zu schwach waren, um in den
Kammern eine Vertretung zu finden oder auch nur die öffentliche Aufmerk¬
samkeit lebhafter zu beschäftigen. Und doch lassen sich die Unruhen, welche
das erste Jahrzehnt der Julimonarchie ausfüllen, der revolutionäre Ausbruch,
der nach achtjähriger trügerischer Ruhe der Regierung Ludwig Philipps ein
gewaltsames Ende bereitete, die unerwarteten Erfolge Louis Napoleons nur
begreifen, wenn man die während der Restauration in den Tiefen der Gesell¬
schaft unbeachtet im Stillen wirkende Thätigkeit des revolutionären Geistes
ins Auge faßt. Die geheimen Gesellschaften und Secten, die literarischen Er¬
zeugnisse verschrobener und rücksichtsloser Systemschmiede, die man verlachte,
weil man sie für unschädliche Phantasten hielt, streuten Keime aus. deren
gewaltige Triebkraft erst zwanzig bis dreißig Jahre später in den furchtbar¬
sten, den Bestand der Gesellschaft mit Auflösung, die moderne Civilisation
mit Vernichtung bedrohenden Erschütterungen zu Tage trat.


wo ihnen ein Feld für eine den ganzen Körper erfrischende Wirksamkeit ge¬
boten war, lag den Männern von 1829 ebenso fern, wie den Politikern der
Gegenwart, mit dem Unterschied jedoch, daß jene der Frage mit einer ge¬
wissen Unbefangenheit gegenüber standen, während heutigen Tages, nachdem
Toqueville seine mahnende Stimme erhoben hat. das wohlgefällige Beharren
auf den alten Irrthümern den traurigen Beweis liefert, daß die Routine
in Frankreich eine Macht ist, an der alle Pfeile der einsichbvollsten Kritik
fruchtlos abprallen.

Indessen läßt sich nicht verkennen, daß, trotz mancher Mißgriffe, der par¬
lamentarische Liberalismus grade in dieser Periode den Versuchungen, sich ins
Ungemessene zu verlieren, einen für französische Verhältnisse ungewöhnlich
kräftigen Widerstand entgegengestellt hat. Schließlich aus den Schranken, die
er sich selbst gesetzt hatte, durch die Macht der Zeitumstände herausgerissen,
bewahrte er in der entscheidenden Krisis doch noch die Kraft, das monarchische
Princip aus den Stürmen einer Revolution zu retten, die ihre unwidersteh¬
liche Kraft vorzugsweise den an ihr betheiligten republikanischen Elementen
verdankte; im Vertrauen auf die kräftig bewährten monarchischen Tendenzen
des Liberalismus glaubte man daher, nachdem die Wogen der Revolution sich
bald gelegt, das neue Regiment sich rasch und sicher consolidirt hatte, einer
ruhigen Periode ungestörter, friedlicher, segensreicher Entwickelung entgegen¬
sehen zu können, mußte aber bald die Erfahrung machen, daß breite Schich¬
ten der Gesellschaft von revolutionären Trieben beherrscht waren, deren Ge¬
walt um so mehr überraschte, da man kaum von ihrem Dasein eine Ahnung
gehabt hatte. Dies nöthigt uns, einen Blick zu werfen auf die während der
Bourbonenherrschast im Stillen wirkenden Kräfte, die, aus unbedeutenden An¬
fängen allmälig erstarkend, doch noch viel zu schwach waren, um in den
Kammern eine Vertretung zu finden oder auch nur die öffentliche Aufmerk¬
samkeit lebhafter zu beschäftigen. Und doch lassen sich die Unruhen, welche
das erste Jahrzehnt der Julimonarchie ausfüllen, der revolutionäre Ausbruch,
der nach achtjähriger trügerischer Ruhe der Regierung Ludwig Philipps ein
gewaltsames Ende bereitete, die unerwarteten Erfolge Louis Napoleons nur
begreifen, wenn man die während der Restauration in den Tiefen der Gesell¬
schaft unbeachtet im Stillen wirkende Thätigkeit des revolutionären Geistes
ins Auge faßt. Die geheimen Gesellschaften und Secten, die literarischen Er¬
zeugnisse verschrobener und rücksichtsloser Systemschmiede, die man verlachte,
weil man sie für unschädliche Phantasten hielt, streuten Keime aus. deren
gewaltige Triebkraft erst zwanzig bis dreißig Jahre später in den furchtbar¬
sten, den Bestand der Gesellschaft mit Auflösung, die moderne Civilisation
mit Vernichtung bedrohenden Erschütterungen zu Tage trat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/94>, abgerufen am 24.07.2024.