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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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auch ohne Willens zu sein, die Keime einer künftigen Revolution, die, wenn
man sie nicht ersehnte, doch als Schreckbild ihre Dienste leisten konnte, mit
der Wurzel auszurotten.

Wir haben gesehen, in wie verhängnißvoller Weise im Verlaufe der Ne-
staurationsmonarchie die Mittelpartei in den Hintergrund gedrängt wurde und der
äußersten Partei den Kampfplatz einräumen mußte. Es war dieser Umstand,
wenn auch zum Theil bedingt durch die überaus schwierigen Verhältnisse, die
aus dem Zusammenleben des neuen und des wiedererstandenen alten Frank¬
reichs sich ergaben, doch auch wesentlich eine Folge der allen französischen
Parteien inwohnenden Abneigung, die praktische Frage des Staatslebens mit
praktischem, durch keine principielle Voreingenommenheit getrübten Blicke an-
zuschaun und in Angriff zu nehmen. Sehr schlagend und in verhängnißvol¬
ler Weise tritt diese Systemsucht in der schon erwähnten Verhandlung über
die Ausdehnung der Rechte der Commune hervor, die zum Sturze des Mini¬
steriums Martignac führte und so die Julirevolution verbreitete. Weder das
Ministerium, noch eine der großen Parteien hatte eine Ahnung von der Be¬
deutung dieser Frage. Das Ministerium trat mit dem Vorschlag hervor, die
Departements-, Bezirks- und Gemeinderäthe künftig aus der Wahl, nicht wie
bisher aus der Ernennung durch den Minister, respective Präfecten, hervor¬
gehen zu lassen. Hiergegen tobten die Ultras; die Liberalen dagegen, die im
Allgemeinen der Vorlage lebhaften Beifall zollten, verlangten die völlige Be¬
seitigung der Zwischenstufe der Bezirksräthe und eine Erweiterung des in der
Gesetzesvorlage sehr eng begränzten Wahlrechts. Daß die Kammer trotz des
entschiedenen Widerstandes der Minister sich für den Wegfall der Bezirksräthe
entschied, war bei der geringen Bedeutung dieser Frage in einem Augenblicke,
wo der Hof, wie man wohl wußte, mit Sehnsucht einer Niederlage Martig-
nacs entgegensah, ein großer Fehler, der die Zurücknahme der Vorlage als
unmittelbare, die Entlassung der Minister als mittelbare Folge hatte. Was
uns an dieser Verhandlung aber besonders interessirt, ist, daß man sich über
Wahlrecht und allerlei Nebendinge erhitzte, daß aber Niemandem einfiel,
einen Antrag auf Erweiterung der Befugnisse der Vertretungen zu stellen,
auch den Liberalen nicht, die über die Segnungen des Präfectenregiments
grade so dachten, wie die Konservativen. So lange die Vertretungen Nichts
waren, als Werkzeuge in der Hand der Präfecten zur Erleichterung der Ver¬
waltung, war die Art und Weise ihrer Ernennung vollkommen gleichgültig.
Die Verwaltung blieb, was sie war, despotisch centralisirt, mochten die Vertretungs¬
körper ernannt oder mochten sie gewählt sein. Der Kern der ganzen Frage,
um die es sich hier handelte, blieb also ganz unberührt. Der Gedanke, durch
Belebung des Gemeinsinns, durch Bethätigung der Bürger an der Verwal¬
tung, die nach dem Haupte sich drängenden Säfte nach den Gliedern abzuleiten,


auch ohne Willens zu sein, die Keime einer künftigen Revolution, die, wenn
man sie nicht ersehnte, doch als Schreckbild ihre Dienste leisten konnte, mit
der Wurzel auszurotten.

Wir haben gesehen, in wie verhängnißvoller Weise im Verlaufe der Ne-
staurationsmonarchie die Mittelpartei in den Hintergrund gedrängt wurde und der
äußersten Partei den Kampfplatz einräumen mußte. Es war dieser Umstand,
wenn auch zum Theil bedingt durch die überaus schwierigen Verhältnisse, die
aus dem Zusammenleben des neuen und des wiedererstandenen alten Frank¬
reichs sich ergaben, doch auch wesentlich eine Folge der allen französischen
Parteien inwohnenden Abneigung, die praktische Frage des Staatslebens mit
praktischem, durch keine principielle Voreingenommenheit getrübten Blicke an-
zuschaun und in Angriff zu nehmen. Sehr schlagend und in verhängnißvol¬
ler Weise tritt diese Systemsucht in der schon erwähnten Verhandlung über
die Ausdehnung der Rechte der Commune hervor, die zum Sturze des Mini¬
steriums Martignac führte und so die Julirevolution verbreitete. Weder das
Ministerium, noch eine der großen Parteien hatte eine Ahnung von der Be¬
deutung dieser Frage. Das Ministerium trat mit dem Vorschlag hervor, die
Departements-, Bezirks- und Gemeinderäthe künftig aus der Wahl, nicht wie
bisher aus der Ernennung durch den Minister, respective Präfecten, hervor¬
gehen zu lassen. Hiergegen tobten die Ultras; die Liberalen dagegen, die im
Allgemeinen der Vorlage lebhaften Beifall zollten, verlangten die völlige Be¬
seitigung der Zwischenstufe der Bezirksräthe und eine Erweiterung des in der
Gesetzesvorlage sehr eng begränzten Wahlrechts. Daß die Kammer trotz des
entschiedenen Widerstandes der Minister sich für den Wegfall der Bezirksräthe
entschied, war bei der geringen Bedeutung dieser Frage in einem Augenblicke,
wo der Hof, wie man wohl wußte, mit Sehnsucht einer Niederlage Martig-
nacs entgegensah, ein großer Fehler, der die Zurücknahme der Vorlage als
unmittelbare, die Entlassung der Minister als mittelbare Folge hatte. Was
uns an dieser Verhandlung aber besonders interessirt, ist, daß man sich über
Wahlrecht und allerlei Nebendinge erhitzte, daß aber Niemandem einfiel,
einen Antrag auf Erweiterung der Befugnisse der Vertretungen zu stellen,
auch den Liberalen nicht, die über die Segnungen des Präfectenregiments
grade so dachten, wie die Konservativen. So lange die Vertretungen Nichts
waren, als Werkzeuge in der Hand der Präfecten zur Erleichterung der Ver¬
waltung, war die Art und Weise ihrer Ernennung vollkommen gleichgültig.
Die Verwaltung blieb, was sie war, despotisch centralisirt, mochten die Vertretungs¬
körper ernannt oder mochten sie gewählt sein. Der Kern der ganzen Frage,
um die es sich hier handelte, blieb also ganz unberührt. Der Gedanke, durch
Belebung des Gemeinsinns, durch Bethätigung der Bürger an der Verwal¬
tung, die nach dem Haupte sich drängenden Säfte nach den Gliedern abzuleiten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/93>, abgerufen am 24.07.2024.