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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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zu machen, die zweite Kammer wurde aufgelöst. Der glänzende Wahlsieg
der Opposition, der sich auch ein großer Theil der specifischen Royalisten an¬
geschlossen hatte, führte zu Villele'ö Rücktritt und zu der Ernennung des ge¬
mäßigten Ministeriums Martignac, das sich mit den Liberalen gut zu stellen
wußte, und durch einige gegen die Jesuiten und deren Lehranstalten gerichtete,
dem König abgedrungene Gesetze sich sogar eine gewisse Popularität erwarb,
deren es dringend bedürfte, die es indessen mit dem wüthenden Haß der
Ultras und Klerikalen und dem verhaltenen Groll des Königs erkauft hatte.
Von der Kammer leichtsinniger Weise in einer Debatte über die Communal-
verwaltung, auf die wir noch zurückkommen müssen, zur geheimen Freude des
Königs in Stich gelassen, erhielt es seine Entlassung, um dem letzten Mini¬
sterium der Restauration, dem Ministerium Polignac, Platz zu machen, dessen
Ernennung von der öffentlichen Meinung allgemein als Kriegserklärung gegen
den Liberalismus und Ankündigung eines nahe bevorstehenden Staatsstreichs
aufgenommen wurde.

Der Staatsstreich gehörte nun allerdings von Anfang an nicht zum
Programm des Ministeriums; aber das bloße Dasein des neuen Cabinets
verschärfte die Gegensätze dermaßen, daß es sich fortan in der That nur noch
um eine persönliche Niederlage des Königs oder um einen gewaltsamen An¬
griff auf die Verfassung, innerhalb deren die Opposition eine unüberwindliche
Stellung eingenommen hatte, handeln konnte. Von den gemäßigten Roya¬
listen bis zu der äußersten Linken gehörte fortan Alles zur Opposition. Auch
jetzt noch war für die große Masse der Liberalen das höchste Ziel des Kampfes
ein Ministerwechsel. Aber es war einer jener in Frankreich immer verhäng-
nißvollen Zeitpuncte eingetreten, wo die radicalen Elemente der Opposition die
Führung übernehmen. Der radicale Theil der parlamentarischen Opposition
bestand aber, obgleich in den großen Städten die republikanische Propaganda
bedeutende Erfolge erzielt hatte und auf dem Lande die kaiserlichen Traditio¬
nen, nachdem die Leiden jener gewaltigen Zeit vergessen waren, im Stillen
eine langsame aber stetige Einwirkung auf die Stimmung ausübten, aus
Orleanisten. Selbst Männer von so republikanischen, wir möchten lieber
sagen Sympathien als Grundsätzen, wie der greise Lafayette, schlossen sich,
von der Aussichtslosigkeit ihrer republikanischen Wünsche überzeugt, der orlea-
nistischen Partei an. Sie waren das treibende Element in der Bewegung,
von der die Doctrinäre, deren höchstes Ziel der Sturz des Ministeriums
Polignac war, fortgerissen wurden: sie waren es aber auch, die, als in den
Straßen von Paris die blutigen Würfel über die Zukunft Frankreichs gewor¬
fen wurden, dem Vordringen der außerparlamentarischen Republikaner Halt
geboten und durch die Berufung Ludwig Philipps von Orleans die Revolu¬
tion zum Abschluß brachten, ohne freilich im Stande und zum Theil wohl


zu machen, die zweite Kammer wurde aufgelöst. Der glänzende Wahlsieg
der Opposition, der sich auch ein großer Theil der specifischen Royalisten an¬
geschlossen hatte, führte zu Villele'ö Rücktritt und zu der Ernennung des ge¬
mäßigten Ministeriums Martignac, das sich mit den Liberalen gut zu stellen
wußte, und durch einige gegen die Jesuiten und deren Lehranstalten gerichtete,
dem König abgedrungene Gesetze sich sogar eine gewisse Popularität erwarb,
deren es dringend bedürfte, die es indessen mit dem wüthenden Haß der
Ultras und Klerikalen und dem verhaltenen Groll des Königs erkauft hatte.
Von der Kammer leichtsinniger Weise in einer Debatte über die Communal-
verwaltung, auf die wir noch zurückkommen müssen, zur geheimen Freude des
Königs in Stich gelassen, erhielt es seine Entlassung, um dem letzten Mini¬
sterium der Restauration, dem Ministerium Polignac, Platz zu machen, dessen
Ernennung von der öffentlichen Meinung allgemein als Kriegserklärung gegen
den Liberalismus und Ankündigung eines nahe bevorstehenden Staatsstreichs
aufgenommen wurde.

Der Staatsstreich gehörte nun allerdings von Anfang an nicht zum
Programm des Ministeriums; aber das bloße Dasein des neuen Cabinets
verschärfte die Gegensätze dermaßen, daß es sich fortan in der That nur noch
um eine persönliche Niederlage des Königs oder um einen gewaltsamen An¬
griff auf die Verfassung, innerhalb deren die Opposition eine unüberwindliche
Stellung eingenommen hatte, handeln konnte. Von den gemäßigten Roya¬
listen bis zu der äußersten Linken gehörte fortan Alles zur Opposition. Auch
jetzt noch war für die große Masse der Liberalen das höchste Ziel des Kampfes
ein Ministerwechsel. Aber es war einer jener in Frankreich immer verhäng-
nißvollen Zeitpuncte eingetreten, wo die radicalen Elemente der Opposition die
Führung übernehmen. Der radicale Theil der parlamentarischen Opposition
bestand aber, obgleich in den großen Städten die republikanische Propaganda
bedeutende Erfolge erzielt hatte und auf dem Lande die kaiserlichen Traditio¬
nen, nachdem die Leiden jener gewaltigen Zeit vergessen waren, im Stillen
eine langsame aber stetige Einwirkung auf die Stimmung ausübten, aus
Orleanisten. Selbst Männer von so republikanischen, wir möchten lieber
sagen Sympathien als Grundsätzen, wie der greise Lafayette, schlossen sich,
von der Aussichtslosigkeit ihrer republikanischen Wünsche überzeugt, der orlea-
nistischen Partei an. Sie waren das treibende Element in der Bewegung,
von der die Doctrinäre, deren höchstes Ziel der Sturz des Ministeriums
Polignac war, fortgerissen wurden: sie waren es aber auch, die, als in den
Straßen von Paris die blutigen Würfel über die Zukunft Frankreichs gewor¬
fen wurden, dem Vordringen der außerparlamentarischen Republikaner Halt
geboten und durch die Berufung Ludwig Philipps von Orleans die Revolu¬
tion zum Abschluß brachten, ohne freilich im Stande und zum Theil wohl


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/92>, abgerufen am 24.07.2024.