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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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sichern Besitz der Zukunft; und was sie hofften, das fürchteten ihre Gegner,
sodaß dieselben im Hinblick auf die reactionären Neigungen des Thronerben
mehr und mehr dem Einfluß der entschiedenen unter ihren Parteigenossen sich
Hingaben, die von Anfang im tief eingewurzelten Mißtrauen gegen die ältere
Linie ihre einzige Hoffnung auf einen Dynastiewechsel gesetzt hatten und in
dem Herzog von Orleans den Mann der Zukunft sahen. So konnte nicht
ausbleiben, daß auf der Rechten wie auf der Linken die Führung nach und
nach den extremen Elementen anheim fiel.

Diese Wendung vollzog sich allmälig und mit mehreren Unterbrechungen,
da Ludwig XVIII. mit Beharrlichkeit, schon aus Eifersucht gegen Artois, an
seiner mittleren Richtung und an den sie vertretenden Personen festhielt.
Richelieus Rücktritt brachte hierin keine Veränderung hervor, da sein Nach¬
folger Decazes im Wesentlichen in dem System der Mäßigung beharrte und
den Haß der Ultras bald in noch weit höherem Grade als sein Vorgänger
auf sich zog. Leider artete nun die Politik der Mäßigung sehr bald in eine
Politik der Unsicherheit und des Schwankens aus: Concessionen an die Ultras
wechselten mit liberalen Anwandlungen, so daß man Niemanden befriedigte,
vielmehr nach allen Seiten hin anstieß und Mißtrauen bei allen Parteien er¬
weckte. Suchte auch die liberale Partei den äußeren wie den inneren Bruch
mit dem Königthum längere Zeit hindurch fast ängstlich zu vermeiden, so ge¬
wann doch allmälig die Stimmung Boden, daß alle Bemühungen, den König
in dem richtigen Geleise zu erhalten, vergeblich sein würden. Die nach der
Ermordung des Herzogs von Berry eintretende Reaction, zu der die Geneh¬
migung der Schwäche des mit den Jahren dem verderblichen Einfluß Artois
mehr und mehr sich hingebenden Königs abgerungen war, steigerte den Fa¬
natismus der Ultras dermaßen, daß die Liberalen die Hoffnung auf den par¬
lamentarischen Kampf aufgaben und sich, soweit sie sich nicht ganz vom
Schauplatz zurückzogen, wieder auf die gefährliche Bahn der Verschwörungen
und geheimen Gesellschaften begaben.

Die Furcht, mit der man dem lange erwarteten Thronwechsel entgegen¬
gesehen hatte, schien sich Anfangs als unbegründet zu erweisen. Wenigstens
glaubte man sich nach dem ersten Auftreten Karls X. zu der Zuversicht be¬
rechtigt, daß derselbe keineswegs mit Plänen zum Umsturz der Verfassung
umgehe. Aber die Honigmonate der neuen Regierung gingen schnell zu Ende.
Villele's Verbleiben im Amte belehrte die Liberalen, daß sie sich vergebliche
Hoffnungen gemacht hatten. Der wachsende Einfluß der Priesterpartei und
der Jesuiten war selbst vielen Ultraroyalisten anstößig. Villele's reactionäre
Gesetze stießen namentlich in der Pairskammer, die damals wiederholt Beweise
ehrenhafter Unabhängigkeit gab, auf unüberwindlichen Widerstand. Die
Pairskammer suchte man durch die Ernennung von 76 neuen Pairs gefügig


sichern Besitz der Zukunft; und was sie hofften, das fürchteten ihre Gegner,
sodaß dieselben im Hinblick auf die reactionären Neigungen des Thronerben
mehr und mehr dem Einfluß der entschiedenen unter ihren Parteigenossen sich
Hingaben, die von Anfang im tief eingewurzelten Mißtrauen gegen die ältere
Linie ihre einzige Hoffnung auf einen Dynastiewechsel gesetzt hatten und in
dem Herzog von Orleans den Mann der Zukunft sahen. So konnte nicht
ausbleiben, daß auf der Rechten wie auf der Linken die Führung nach und
nach den extremen Elementen anheim fiel.

Diese Wendung vollzog sich allmälig und mit mehreren Unterbrechungen,
da Ludwig XVIII. mit Beharrlichkeit, schon aus Eifersucht gegen Artois, an
seiner mittleren Richtung und an den sie vertretenden Personen festhielt.
Richelieus Rücktritt brachte hierin keine Veränderung hervor, da sein Nach¬
folger Decazes im Wesentlichen in dem System der Mäßigung beharrte und
den Haß der Ultras bald in noch weit höherem Grade als sein Vorgänger
auf sich zog. Leider artete nun die Politik der Mäßigung sehr bald in eine
Politik der Unsicherheit und des Schwankens aus: Concessionen an die Ultras
wechselten mit liberalen Anwandlungen, so daß man Niemanden befriedigte,
vielmehr nach allen Seiten hin anstieß und Mißtrauen bei allen Parteien er¬
weckte. Suchte auch die liberale Partei den äußeren wie den inneren Bruch
mit dem Königthum längere Zeit hindurch fast ängstlich zu vermeiden, so ge¬
wann doch allmälig die Stimmung Boden, daß alle Bemühungen, den König
in dem richtigen Geleise zu erhalten, vergeblich sein würden. Die nach der
Ermordung des Herzogs von Berry eintretende Reaction, zu der die Geneh¬
migung der Schwäche des mit den Jahren dem verderblichen Einfluß Artois
mehr und mehr sich hingebenden Königs abgerungen war, steigerte den Fa¬
natismus der Ultras dermaßen, daß die Liberalen die Hoffnung auf den par¬
lamentarischen Kampf aufgaben und sich, soweit sie sich nicht ganz vom
Schauplatz zurückzogen, wieder auf die gefährliche Bahn der Verschwörungen
und geheimen Gesellschaften begaben.

Die Furcht, mit der man dem lange erwarteten Thronwechsel entgegen¬
gesehen hatte, schien sich Anfangs als unbegründet zu erweisen. Wenigstens
glaubte man sich nach dem ersten Auftreten Karls X. zu der Zuversicht be¬
rechtigt, daß derselbe keineswegs mit Plänen zum Umsturz der Verfassung
umgehe. Aber die Honigmonate der neuen Regierung gingen schnell zu Ende.
Villele's Verbleiben im Amte belehrte die Liberalen, daß sie sich vergebliche
Hoffnungen gemacht hatten. Der wachsende Einfluß der Priesterpartei und
der Jesuiten war selbst vielen Ultraroyalisten anstößig. Villele's reactionäre
Gesetze stießen namentlich in der Pairskammer, die damals wiederholt Beweise
ehrenhafter Unabhängigkeit gab, auf unüberwindlichen Widerstand. Die
Pairskammer suchte man durch die Ernennung von 76 neuen Pairs gefügig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/91>, abgerufen am 24.07.2024.