Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

deßhalb durch und durch radical gestimmten Frankreich, wo jede Controverse
sich zu einem Principienkampfe zuspitzt, weil sie nur in der Form einer Prin¬
cipienfrage die öffentliche Meinung in Bewegung zu setzen vermag, wo aber,
weil die Principien nur zur glänzenden Staffage für die persönlichsten egoisti¬
schen Zwecke dienen, sich weniger wahre Principientreue findet, als in irgend
einem andern Staate.

Vor Allem aber werden die Gefahren der wechselnden Parteiherrschaft in
England dadurch gemildert, daß die gesammte so außerordentlich ausgedehnte
und einflußreiche Localverwaltung, in der vorzugsweise der Charakter des Staates
und Volkes sich ausprägt, von dem Siege dieser oder jener Partei unberührt
bleibt. So gründlich auch jede Partei ihren Sieg in der Besetzung der hohen
Staatsämter und sogar, um den Monarchen allen ihr feindlichen Einflüssen
zu entziehen, der Hofchargen, ausbeutet und ausbeuten muß, in den Bereich
des Selfgovernments greift sie nicht ein: die nach festen Rechtsnormen ge¬
ordnete Verwaltung der Grafschaften und Gemeinden geht ihren gleichmäßigen
Gang, gleichviel ob die Ministerportefeuilles sich in den Händen der Tories
oder Whigs befinden. Der Sieger kann also gar nicht auf den Gedanken
verfallen, die besiegte Gegenpartei vermittelst des Verwaltungsapparates zu
vernichten, da die unerschütterlichen breiten Grundlagen des politischen Lebens
sich dem Beamteneinflusse fast ganz entziehen. Der Einfluß des Parlaments
auf die Krone ist allerdings fast unbeschränkt; denn die Rathgeber der Krone
sind die Vertrauensmänner der Majorität des Unterhauses;^ aber dem Lande
gegenüber findet die Macht des Parlaments in dem Organismus der Ver¬
waltung und in dem Freiheitssinn des Volkes, das diese Verwaltung aus
seinem innersten Wesen heraus in langsamer, aber stetiger und solgerechter
Entwickelung geschaffen hat, eine feste Schranke. Und gerade auf der Achtung
vor dieser Schranke beruht die Stärke des Parlaments der Krone gegenüber.
Wollte das Unterhaus die Freiheit des Landes durch die Schwächung oder
gar Beseitigung des Selfgovernments unterdrücken, um die Stellung einzu¬
nehmen, die in den parlamentarischen Perioden in Frankreich die Wahlkammer
stets eingenommen hat, so würde das Land den Schutz seines Rechtes bei der
Krone suchen. Das neuerdings hervortretende Streben, die Verwaltung in
einigen Zweigen mit Beschränkung das Selfgovernment zu centralisiren, muß
daher sehr bedenklich erscheinen. Es entspricht allerdings vielfach dem prak¬
tischen Bedürfnisse, vor Allem aber gerade den Neigungen der einflußreichsten
Gesellschaftsclassen, in denen sich bedenkliche Symptome einer Erschlaffung des
bis dahin in England so kräftigen Staatssinnes zeigen, und die offenbar auf
dem Punkte stehen, das Bewußtsein einzubüßen, daß die Kraft der englischen
Verfassung, der Bestand der englischen Freiheit bedingt ist von der Energie,
mit der die äußerlich unabhängig gestellten Stände sich persönlich an der Ver-


deßhalb durch und durch radical gestimmten Frankreich, wo jede Controverse
sich zu einem Principienkampfe zuspitzt, weil sie nur in der Form einer Prin¬
cipienfrage die öffentliche Meinung in Bewegung zu setzen vermag, wo aber,
weil die Principien nur zur glänzenden Staffage für die persönlichsten egoisti¬
schen Zwecke dienen, sich weniger wahre Principientreue findet, als in irgend
einem andern Staate.

Vor Allem aber werden die Gefahren der wechselnden Parteiherrschaft in
England dadurch gemildert, daß die gesammte so außerordentlich ausgedehnte
und einflußreiche Localverwaltung, in der vorzugsweise der Charakter des Staates
und Volkes sich ausprägt, von dem Siege dieser oder jener Partei unberührt
bleibt. So gründlich auch jede Partei ihren Sieg in der Besetzung der hohen
Staatsämter und sogar, um den Monarchen allen ihr feindlichen Einflüssen
zu entziehen, der Hofchargen, ausbeutet und ausbeuten muß, in den Bereich
des Selfgovernments greift sie nicht ein: die nach festen Rechtsnormen ge¬
ordnete Verwaltung der Grafschaften und Gemeinden geht ihren gleichmäßigen
Gang, gleichviel ob die Ministerportefeuilles sich in den Händen der Tories
oder Whigs befinden. Der Sieger kann also gar nicht auf den Gedanken
verfallen, die besiegte Gegenpartei vermittelst des Verwaltungsapparates zu
vernichten, da die unerschütterlichen breiten Grundlagen des politischen Lebens
sich dem Beamteneinflusse fast ganz entziehen. Der Einfluß des Parlaments
auf die Krone ist allerdings fast unbeschränkt; denn die Rathgeber der Krone
sind die Vertrauensmänner der Majorität des Unterhauses;^ aber dem Lande
gegenüber findet die Macht des Parlaments in dem Organismus der Ver¬
waltung und in dem Freiheitssinn des Volkes, das diese Verwaltung aus
seinem innersten Wesen heraus in langsamer, aber stetiger und solgerechter
Entwickelung geschaffen hat, eine feste Schranke. Und gerade auf der Achtung
vor dieser Schranke beruht die Stärke des Parlaments der Krone gegenüber.
Wollte das Unterhaus die Freiheit des Landes durch die Schwächung oder
gar Beseitigung des Selfgovernments unterdrücken, um die Stellung einzu¬
nehmen, die in den parlamentarischen Perioden in Frankreich die Wahlkammer
stets eingenommen hat, so würde das Land den Schutz seines Rechtes bei der
Krone suchen. Das neuerdings hervortretende Streben, die Verwaltung in
einigen Zweigen mit Beschränkung das Selfgovernment zu centralisiren, muß
daher sehr bedenklich erscheinen. Es entspricht allerdings vielfach dem prak¬
tischen Bedürfnisse, vor Allem aber gerade den Neigungen der einflußreichsten
Gesellschaftsclassen, in denen sich bedenkliche Symptome einer Erschlaffung des
bis dahin in England so kräftigen Staatssinnes zeigen, und die offenbar auf
dem Punkte stehen, das Bewußtsein einzubüßen, daß die Kraft der englischen
Verfassung, der Bestand der englischen Freiheit bedingt ist von der Energie,
mit der die äußerlich unabhängig gestellten Stände sich persönlich an der Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126375"/>
            <p xml:id="ID_129" prev="#ID_128"> deßhalb durch und durch radical gestimmten Frankreich, wo jede Controverse<lb/>
sich zu einem Principienkampfe zuspitzt, weil sie nur in der Form einer Prin¬<lb/>
cipienfrage die öffentliche Meinung in Bewegung zu setzen vermag, wo aber,<lb/>
weil die Principien nur zur glänzenden Staffage für die persönlichsten egoisti¬<lb/>
schen Zwecke dienen, sich weniger wahre Principientreue findet, als in irgend<lb/>
einem andern Staate.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_130" next="#ID_131"> Vor Allem aber werden die Gefahren der wechselnden Parteiherrschaft in<lb/>
England dadurch gemildert, daß die gesammte so außerordentlich ausgedehnte<lb/>
und einflußreiche Localverwaltung, in der vorzugsweise der Charakter des Staates<lb/>
und Volkes sich ausprägt, von dem Siege dieser oder jener Partei unberührt<lb/>
bleibt. So gründlich auch jede Partei ihren Sieg in der Besetzung der hohen<lb/>
Staatsämter und sogar, um den Monarchen allen ihr feindlichen Einflüssen<lb/>
zu entziehen, der Hofchargen, ausbeutet und ausbeuten muß, in den Bereich<lb/>
des Selfgovernments greift sie nicht ein: die nach festen Rechtsnormen ge¬<lb/>
ordnete Verwaltung der Grafschaften und Gemeinden geht ihren gleichmäßigen<lb/>
Gang, gleichviel ob die Ministerportefeuilles sich in den Händen der Tories<lb/>
oder Whigs befinden. Der Sieger kann also gar nicht auf den Gedanken<lb/>
verfallen, die besiegte Gegenpartei vermittelst des Verwaltungsapparates zu<lb/>
vernichten, da die unerschütterlichen breiten Grundlagen des politischen Lebens<lb/>
sich dem Beamteneinflusse fast ganz entziehen. Der Einfluß des Parlaments<lb/>
auf die Krone ist allerdings fast unbeschränkt; denn die Rathgeber der Krone<lb/>
sind die Vertrauensmänner der Majorität des Unterhauses;^ aber dem Lande<lb/>
gegenüber findet die Macht des Parlaments in dem Organismus der Ver¬<lb/>
waltung und in dem Freiheitssinn des Volkes, das diese Verwaltung aus<lb/>
seinem innersten Wesen heraus in langsamer, aber stetiger und solgerechter<lb/>
Entwickelung geschaffen hat, eine feste Schranke. Und gerade auf der Achtung<lb/>
vor dieser Schranke beruht die Stärke des Parlaments der Krone gegenüber.<lb/>
Wollte das Unterhaus die Freiheit des Landes durch die Schwächung oder<lb/>
gar Beseitigung des Selfgovernments unterdrücken, um die Stellung einzu¬<lb/>
nehmen, die in den parlamentarischen Perioden in Frankreich die Wahlkammer<lb/>
stets eingenommen hat, so würde das Land den Schutz seines Rechtes bei der<lb/>
Krone suchen. Das neuerdings hervortretende Streben, die Verwaltung in<lb/>
einigen Zweigen mit Beschränkung das Selfgovernment zu centralisiren, muß<lb/>
daher sehr bedenklich erscheinen. Es entspricht allerdings vielfach dem prak¬<lb/>
tischen Bedürfnisse, vor Allem aber gerade den Neigungen der einflußreichsten<lb/>
Gesellschaftsclassen, in denen sich bedenkliche Symptome einer Erschlaffung des<lb/>
bis dahin in England so kräftigen Staatssinnes zeigen, und die offenbar auf<lb/>
dem Punkte stehen, das Bewußtsein einzubüßen, daß die Kraft der englischen<lb/>
Verfassung, der Bestand der englischen Freiheit bedingt ist von der Energie,<lb/>
mit der die äußerlich unabhängig gestellten Stände sich persönlich an der Ver-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0059] deßhalb durch und durch radical gestimmten Frankreich, wo jede Controverse sich zu einem Principienkampfe zuspitzt, weil sie nur in der Form einer Prin¬ cipienfrage die öffentliche Meinung in Bewegung zu setzen vermag, wo aber, weil die Principien nur zur glänzenden Staffage für die persönlichsten egoisti¬ schen Zwecke dienen, sich weniger wahre Principientreue findet, als in irgend einem andern Staate. Vor Allem aber werden die Gefahren der wechselnden Parteiherrschaft in England dadurch gemildert, daß die gesammte so außerordentlich ausgedehnte und einflußreiche Localverwaltung, in der vorzugsweise der Charakter des Staates und Volkes sich ausprägt, von dem Siege dieser oder jener Partei unberührt bleibt. So gründlich auch jede Partei ihren Sieg in der Besetzung der hohen Staatsämter und sogar, um den Monarchen allen ihr feindlichen Einflüssen zu entziehen, der Hofchargen, ausbeutet und ausbeuten muß, in den Bereich des Selfgovernments greift sie nicht ein: die nach festen Rechtsnormen ge¬ ordnete Verwaltung der Grafschaften und Gemeinden geht ihren gleichmäßigen Gang, gleichviel ob die Ministerportefeuilles sich in den Händen der Tories oder Whigs befinden. Der Sieger kann also gar nicht auf den Gedanken verfallen, die besiegte Gegenpartei vermittelst des Verwaltungsapparates zu vernichten, da die unerschütterlichen breiten Grundlagen des politischen Lebens sich dem Beamteneinflusse fast ganz entziehen. Der Einfluß des Parlaments auf die Krone ist allerdings fast unbeschränkt; denn die Rathgeber der Krone sind die Vertrauensmänner der Majorität des Unterhauses;^ aber dem Lande gegenüber findet die Macht des Parlaments in dem Organismus der Ver¬ waltung und in dem Freiheitssinn des Volkes, das diese Verwaltung aus seinem innersten Wesen heraus in langsamer, aber stetiger und solgerechter Entwickelung geschaffen hat, eine feste Schranke. Und gerade auf der Achtung vor dieser Schranke beruht die Stärke des Parlaments der Krone gegenüber. Wollte das Unterhaus die Freiheit des Landes durch die Schwächung oder gar Beseitigung des Selfgovernments unterdrücken, um die Stellung einzu¬ nehmen, die in den parlamentarischen Perioden in Frankreich die Wahlkammer stets eingenommen hat, so würde das Land den Schutz seines Rechtes bei der Krone suchen. Das neuerdings hervortretende Streben, die Verwaltung in einigen Zweigen mit Beschränkung das Selfgovernment zu centralisiren, muß daher sehr bedenklich erscheinen. Es entspricht allerdings vielfach dem prak¬ tischen Bedürfnisse, vor Allem aber gerade den Neigungen der einflußreichsten Gesellschaftsclassen, in denen sich bedenkliche Symptome einer Erschlaffung des bis dahin in England so kräftigen Staatssinnes zeigen, und die offenbar auf dem Punkte stehen, das Bewußtsein einzubüßen, daß die Kraft der englischen Verfassung, der Bestand der englischen Freiheit bedingt ist von der Energie, mit der die äußerlich unabhängig gestellten Stände sich persönlich an der Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/59
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/59>, abgerufen am 24.07.2024.