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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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wurden Raub und Eroberung die Losung aller Parteien. Im Inneren hatte
man die Principien der Gleichheit und Brüderlichkeit decretirt, und damit
nur den Trieb nach absoluter Herrschaft allen Classen, allen Parteien ein¬
geimpft. Und in dem Maaße, wie das Streben nach Herrschaft die Trieb¬
feder der Politik wurde, schwand der Sinn für Freiheit, Recht und Wahrheit.
Man prahlte mit Principientreue und redete sich anfangs wohl selbst ein,
daß die hohen Worte ernst gemeint seien. Man gab sich-der Selbsttäuschung
hin, aus der sich dann, Alles überwuchernd, das öffentliche Leben vergiftend,
reißend schnell die bewußte Lüge entwickelte.

Der Parteikampf ist überall, namentlich auch in England, dem klassischen
Lande des Parteiwesens, ein Kampf um Macht und Herrschaft. Es ist ja
das Recht der Parteien, ihre Grundsätze in der Gesetzgebung und Verwaltung
zur Geltung zu bringen, und je entwickelter das parlamentarische Regime in
einem Lande ist, um so unvermeidlicher fällt der Triumph der Grundsätze
einer Partei mit der Herrschaft der Führer derselben zusammen. Daß diese
wechselnde Herrschaft der Parteien in England bis jetzt weder die Stabilität
des Staates erschüttert, noch die politische Gesundheit des Volkes zerstört hat,
hat seine Ursache besonders in zwei Erscheinungen, die zu dem, was wir in
Betreff Frankreichs bemerkt, in geradem Gegensatze stehen. Zunächst in der
dem Volkscharakter entsprechenden verständigen Nüchternheit der Parteipro¬
gramme, die immer mit klarer Bestimmtheit die Durchführung solcher Auf¬
gaben anstreben, die von dem unzweifelhaftesten Bedürfniß gestellt werden.
Die nachhaltige Gewalt der öffentlichen Meinung beruht in England, umge¬
kehrt wie in Frankreich, auf der Strenge, mit der sie alle unreifen, verfrüh¬
ten oder gar chimärischen Forderungen abweist. Selbst in den Zeiten der
lebhaftesten Reformbewegung pflegt sich der Kampf der großen Parteien gleich¬
zeitig immer nur um eine oder wenige Fragen zu drehen, um dieselbe zu
einem nicht bloß die Interessen einer Partei fördernden, sondern die berechtig¬
ten Ansprüche aller Parteien und Gesellschaftsclassen nach Möglichkeit ver¬
söhnenden Abschluß zu bringen. Wohl haben auch in England die Parteien
ihre Principien, die (wir sehen von manchen bedenklichen Erscheinungen der
neuesten Zeit ab) um so fester gewurzelt sind, da sie auf einer Jahrhunderte
alten Tradition beruhen; aber in den entscheidenden Kämpfen hütet man sich
mit bewunderungswürdigem Tacte, den principiellen Charakter der Fragen,
um welche die Discussion sich dreht, allzu scharf hervortreten zu lassen; man
sucht vielmehr, so weit es möglich ist, das zu lösende Problem der Staats¬
kunst seines principiellen Parteicharakters zu entkleiden, in der Erkenntniß,
daß die Principien unversöhnlich sind, ein Compromiß zwischen den entgegen¬
gesetzten Interessen also immer nur auf dem Boden der Thatsachen gefun¬
den werden kann: also gerade umgekehrt, wie in dem ooctrinären und eben


wurden Raub und Eroberung die Losung aller Parteien. Im Inneren hatte
man die Principien der Gleichheit und Brüderlichkeit decretirt, und damit
nur den Trieb nach absoluter Herrschaft allen Classen, allen Parteien ein¬
geimpft. Und in dem Maaße, wie das Streben nach Herrschaft die Trieb¬
feder der Politik wurde, schwand der Sinn für Freiheit, Recht und Wahrheit.
Man prahlte mit Principientreue und redete sich anfangs wohl selbst ein,
daß die hohen Worte ernst gemeint seien. Man gab sich-der Selbsttäuschung
hin, aus der sich dann, Alles überwuchernd, das öffentliche Leben vergiftend,
reißend schnell die bewußte Lüge entwickelte.

Der Parteikampf ist überall, namentlich auch in England, dem klassischen
Lande des Parteiwesens, ein Kampf um Macht und Herrschaft. Es ist ja
das Recht der Parteien, ihre Grundsätze in der Gesetzgebung und Verwaltung
zur Geltung zu bringen, und je entwickelter das parlamentarische Regime in
einem Lande ist, um so unvermeidlicher fällt der Triumph der Grundsätze
einer Partei mit der Herrschaft der Führer derselben zusammen. Daß diese
wechselnde Herrschaft der Parteien in England bis jetzt weder die Stabilität
des Staates erschüttert, noch die politische Gesundheit des Volkes zerstört hat,
hat seine Ursache besonders in zwei Erscheinungen, die zu dem, was wir in
Betreff Frankreichs bemerkt, in geradem Gegensatze stehen. Zunächst in der
dem Volkscharakter entsprechenden verständigen Nüchternheit der Parteipro¬
gramme, die immer mit klarer Bestimmtheit die Durchführung solcher Auf¬
gaben anstreben, die von dem unzweifelhaftesten Bedürfniß gestellt werden.
Die nachhaltige Gewalt der öffentlichen Meinung beruht in England, umge¬
kehrt wie in Frankreich, auf der Strenge, mit der sie alle unreifen, verfrüh¬
ten oder gar chimärischen Forderungen abweist. Selbst in den Zeiten der
lebhaftesten Reformbewegung pflegt sich der Kampf der großen Parteien gleich¬
zeitig immer nur um eine oder wenige Fragen zu drehen, um dieselbe zu
einem nicht bloß die Interessen einer Partei fördernden, sondern die berechtig¬
ten Ansprüche aller Parteien und Gesellschaftsclassen nach Möglichkeit ver¬
söhnenden Abschluß zu bringen. Wohl haben auch in England die Parteien
ihre Principien, die (wir sehen von manchen bedenklichen Erscheinungen der
neuesten Zeit ab) um so fester gewurzelt sind, da sie auf einer Jahrhunderte
alten Tradition beruhen; aber in den entscheidenden Kämpfen hütet man sich
mit bewunderungswürdigem Tacte, den principiellen Charakter der Fragen,
um welche die Discussion sich dreht, allzu scharf hervortreten zu lassen; man
sucht vielmehr, so weit es möglich ist, das zu lösende Problem der Staats¬
kunst seines principiellen Parteicharakters zu entkleiden, in der Erkenntniß,
daß die Principien unversöhnlich sind, ein Compromiß zwischen den entgegen¬
gesetzten Interessen also immer nur auf dem Boden der Thatsachen gefun¬
den werden kann: also gerade umgekehrt, wie in dem ooctrinären und eben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/58>, abgerufen am 24.07.2024.