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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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waltung betheiligen. Die neuerdings eingeschlagene Richtung ist daher wohl
populär und sie gilt für liberal und es läßt sich auch nicht leugnen, daß auf
diesem Wege unleidliche Mißstände leicht und bequem beseitigt sind. Aber
als eine normale Entwickelung des alt-englischen Staatsprincips ist die Stär¬
kung des besoldeten Beamtenelements nimmermehr anzusehen, vielmehr als
ein ganz entschiedenes Abweichen von demselben. Es ist hohe Zeit, daß die
bedenkliche Lage der inneren und äußeren Verhältnisse Englands im Volke
den Staatssinn wieder neu belebe. Die Grundlage der Freiheit ist, daß der
Bürger vor Allem ein ^so^ 7ro/i.trtx"^ ist. Wo in den unabhängigen Classen
dies Bewußtsein geschwunden ist, da vermag freilich nur ein sest bureaukra¬
tisch organisirtes Staatswesen die Gesellschaft vor der Anarchie zu schützen.

In Frankreich, zu dem wir zurückkehren, dem Lande der absoluten Auto¬
rität und Centralisation, in dem gerade die radicalen, socialen und politischen
Systeme am eifrigsten auf das beständige und. allseitige Eingreifen der Staats¬
gewalt dringen, dem Lande, in dem der despotische Wille, so lange er nur
den Schein der Schwäche zu vermeiden weiß, den unbedingtesten Gehorsam
findet, ist der Boden für eine gesunde Parteibildung nicht vorhanden und
niemals vorhanden gewesen. Dies trat, wie wir ausgeführt haben, zuerst
schlagend in der Revolution hervor, und die Mißbildungen des Parteiwesens
in der Revolutionszeit blieben das Vorbild für alle folgenden Phasen des
konstitutionellen Lebens. Ist aber in dem französischen Staatsprincip die
Quelle der Parteicorruption zu suchen, so trug diese wieder mächtig dazu bei,
die Staatsverwaltung in der verderblichen Bahn, in die sie sich begeben hatte,
festzuhalten. Man dreht sich in einem Cirkel, den man unfähig ist zu durch¬
brechen; man fühlt, daß Staat und Gesellschaft an einer chronischen ver¬
zehrenden Krankheit leiden. Aber das Wesen des Uebels erkennt man nicht,
weil Vorurtheil, individueller Egoismus, nationale Eitelkeit in dem, was den
Staat langsam dem Untergange zuführt, die Quelle der französischen Macht
und Größe sehen. Man überredet sich und Andere, für die Freiheit zu
kämpfen, während doch Jeder nur auf den Besitz der Macht bedacht ist. Je¬
des Mittel, die Verleumdung, wie das Bündniß mit dem principiellen Geg¬
ner gilt für erlaubt im Kampfe gegen die Negierung; man stürzt sich leicht¬
sinnig in die Anarchie, und schmiegt sich, um den Folgen der Anarchie zu
entgehen, willen- und charakterlos unter den härtesten Despotismus. Das
unruhigste, beweglichste Volk Europa's ist zugleich das lenksamste für den,
welcher seinen Charakter studirt hat und den Schwächen desselben geschickt zu
schmeicheln weiß.

Werfen wir nun zunächst einen Blick auf die Entwickelung und Wirk¬
samkeit des Parteiwesens unter dem nach Napoleons I. Sturz wieder herge¬
stellten Königthum.




waltung betheiligen. Die neuerdings eingeschlagene Richtung ist daher wohl
populär und sie gilt für liberal und es läßt sich auch nicht leugnen, daß auf
diesem Wege unleidliche Mißstände leicht und bequem beseitigt sind. Aber
als eine normale Entwickelung des alt-englischen Staatsprincips ist die Stär¬
kung des besoldeten Beamtenelements nimmermehr anzusehen, vielmehr als
ein ganz entschiedenes Abweichen von demselben. Es ist hohe Zeit, daß die
bedenkliche Lage der inneren und äußeren Verhältnisse Englands im Volke
den Staatssinn wieder neu belebe. Die Grundlage der Freiheit ist, daß der
Bürger vor Allem ein ^so^ 7ro/i.trtx»^ ist. Wo in den unabhängigen Classen
dies Bewußtsein geschwunden ist, da vermag freilich nur ein sest bureaukra¬
tisch organisirtes Staatswesen die Gesellschaft vor der Anarchie zu schützen.

In Frankreich, zu dem wir zurückkehren, dem Lande der absoluten Auto¬
rität und Centralisation, in dem gerade die radicalen, socialen und politischen
Systeme am eifrigsten auf das beständige und. allseitige Eingreifen der Staats¬
gewalt dringen, dem Lande, in dem der despotische Wille, so lange er nur
den Schein der Schwäche zu vermeiden weiß, den unbedingtesten Gehorsam
findet, ist der Boden für eine gesunde Parteibildung nicht vorhanden und
niemals vorhanden gewesen. Dies trat, wie wir ausgeführt haben, zuerst
schlagend in der Revolution hervor, und die Mißbildungen des Parteiwesens
in der Revolutionszeit blieben das Vorbild für alle folgenden Phasen des
konstitutionellen Lebens. Ist aber in dem französischen Staatsprincip die
Quelle der Parteicorruption zu suchen, so trug diese wieder mächtig dazu bei,
die Staatsverwaltung in der verderblichen Bahn, in die sie sich begeben hatte,
festzuhalten. Man dreht sich in einem Cirkel, den man unfähig ist zu durch¬
brechen; man fühlt, daß Staat und Gesellschaft an einer chronischen ver¬
zehrenden Krankheit leiden. Aber das Wesen des Uebels erkennt man nicht,
weil Vorurtheil, individueller Egoismus, nationale Eitelkeit in dem, was den
Staat langsam dem Untergange zuführt, die Quelle der französischen Macht
und Größe sehen. Man überredet sich und Andere, für die Freiheit zu
kämpfen, während doch Jeder nur auf den Besitz der Macht bedacht ist. Je¬
des Mittel, die Verleumdung, wie das Bündniß mit dem principiellen Geg¬
ner gilt für erlaubt im Kampfe gegen die Negierung; man stürzt sich leicht¬
sinnig in die Anarchie, und schmiegt sich, um den Folgen der Anarchie zu
entgehen, willen- und charakterlos unter den härtesten Despotismus. Das
unruhigste, beweglichste Volk Europa's ist zugleich das lenksamste für den,
welcher seinen Charakter studirt hat und den Schwächen desselben geschickt zu
schmeicheln weiß.

Werfen wir nun zunächst einen Blick auf die Entwickelung und Wirk¬
samkeit des Parteiwesens unter dem nach Napoleons I. Sturz wieder herge¬
stellten Königthum.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/60>, abgerufen am 24.07.2024.