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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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sondern auch ein dem unbesiegbaren Widerwillen der Versammlung, das
Nebelreich ihrer phantastischen Ideale zu verlassen, und mit nüchterner Be¬
sonnenheit an dem spröden Stoffe der Wirklichkeit ihre Kraft zu erproben.
Mirabeau war gewaltig, unwiderstehlich, wo es galt, die Reaction des alten
Frankreich zu Boden zu schlagen und dem neuen Geiste Bahn zu brechen;
aber die entfesselten Elemente zu organisatorischer Thätigkeit anzuleiten, sie
in praktischer Arbeit am Neubau des Staates nach den ihm klar vorschweben¬
den Umrissen zu Schulen, den brausenden Strom der Begeisterung einzudämmen
und als Triebkraft für die Lösung der Aufgaben, die sein staatsmännisches
Genie sich gestellt hatte, zu verwerthen: dazu reichte selbst seine Riesenkraft
nicht aus, weil er stets ohne zuverlässige Gehülfen arbeiten mußte, weil Nie¬
mand fähig war, seine schöpferischen Gedanken zu verstehen, weil die Ver¬
sammlung' bereits unter der Herrschaft der Propaganda stand, die vermittelst
der Menschenrechte ganz Europa neu gestalten wollte. Der Radicalismus
hatte sich eben auch der Gemäßigten bemächtigt; der Glaube, daß nach Hin¬
wegräumung aller Standesunterschiede, nach Beseitigung der Mißbräuche, die
das alte Regime theils aus Schlaffheit unangetastet gelassen, theils aus mac-
chiavellistischer Berechnung geflissentlich gepflegt hatte, der neue Staat aus der
Erklärung der Menschenrechte, wie Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus
hervorspringen werde, drängte Frankreich unaufhaltsam vorwärts auf den
Weg der Revolution; aus dem Gleichheitstriebe grade entwickelte sich der
Classenkampf, der fortan die französische Gesellschaft zerrüttete; in dem Wahne
das Reich der Freiheit im Taumel der ersten frischen Begeisterung bereits be¬
gründet zu haben, hatte man in der That nur der demokratischen Dictatur,
die sich unter dem Namen der Republik versteckte, die Wege gebahnt: die par¬
lamentarische, Aera wurde mit der verhängnißvollen Thatsache eingeweiht, daß
die liberalen Elemente des Landes, unfähig ihre Thätigkeit auf scharf um¬
grenzte Ziele zu richten, sich dem Einflüsse der extremen Parteien überließen,
um alsbald von ihnen verschlungen zu werden. Das ist die älteste Tradition
des französischen Parteiwesens, und die Nachkommen sind dem Beispiel der
Vorfahren in dieser Beziehung getreulich gefolgt.

Wie rasch schlug unter dem Einfluß dieser Verhältnisse der überschwäng-
liche Idealismus, mit dem die Parteien sich in die Revolution gestürzt hat¬
ten, in die nackteste Herrschsucht um! Wohl erhitzte man sich auch noch serner-
Hin im glänzenden Wortgefecht für politische Principien, wohl suchte, man,
sich und Andere zu überreden, daß man für ideale Ziele kämpfe. Aber hinter
allen glänzenden Phrasen verbarg sich das Streben nach der Vernichtung des
Mitbewerbers um die Macht. Lafayette hatte gewähnt, mit der Erklärung
der Menschenrechte die Freiheit zum Weltprincip, Frankreich zum Werkzeug
der Welterlösung zu machen: bei der ersten Berührung mit dem Auslande


Grenzboten U. 1871. 7

sondern auch ein dem unbesiegbaren Widerwillen der Versammlung, das
Nebelreich ihrer phantastischen Ideale zu verlassen, und mit nüchterner Be¬
sonnenheit an dem spröden Stoffe der Wirklichkeit ihre Kraft zu erproben.
Mirabeau war gewaltig, unwiderstehlich, wo es galt, die Reaction des alten
Frankreich zu Boden zu schlagen und dem neuen Geiste Bahn zu brechen;
aber die entfesselten Elemente zu organisatorischer Thätigkeit anzuleiten, sie
in praktischer Arbeit am Neubau des Staates nach den ihm klar vorschweben¬
den Umrissen zu Schulen, den brausenden Strom der Begeisterung einzudämmen
und als Triebkraft für die Lösung der Aufgaben, die sein staatsmännisches
Genie sich gestellt hatte, zu verwerthen: dazu reichte selbst seine Riesenkraft
nicht aus, weil er stets ohne zuverlässige Gehülfen arbeiten mußte, weil Nie¬
mand fähig war, seine schöpferischen Gedanken zu verstehen, weil die Ver¬
sammlung' bereits unter der Herrschaft der Propaganda stand, die vermittelst
der Menschenrechte ganz Europa neu gestalten wollte. Der Radicalismus
hatte sich eben auch der Gemäßigten bemächtigt; der Glaube, daß nach Hin¬
wegräumung aller Standesunterschiede, nach Beseitigung der Mißbräuche, die
das alte Regime theils aus Schlaffheit unangetastet gelassen, theils aus mac-
chiavellistischer Berechnung geflissentlich gepflegt hatte, der neue Staat aus der
Erklärung der Menschenrechte, wie Pallas Athene aus dem Haupt des Zeus
hervorspringen werde, drängte Frankreich unaufhaltsam vorwärts auf den
Weg der Revolution; aus dem Gleichheitstriebe grade entwickelte sich der
Classenkampf, der fortan die französische Gesellschaft zerrüttete; in dem Wahne
das Reich der Freiheit im Taumel der ersten frischen Begeisterung bereits be¬
gründet zu haben, hatte man in der That nur der demokratischen Dictatur,
die sich unter dem Namen der Republik versteckte, die Wege gebahnt: die par¬
lamentarische, Aera wurde mit der verhängnißvollen Thatsache eingeweiht, daß
die liberalen Elemente des Landes, unfähig ihre Thätigkeit auf scharf um¬
grenzte Ziele zu richten, sich dem Einflüsse der extremen Parteien überließen,
um alsbald von ihnen verschlungen zu werden. Das ist die älteste Tradition
des französischen Parteiwesens, und die Nachkommen sind dem Beispiel der
Vorfahren in dieser Beziehung getreulich gefolgt.

Wie rasch schlug unter dem Einfluß dieser Verhältnisse der überschwäng-
liche Idealismus, mit dem die Parteien sich in die Revolution gestürzt hat¬
ten, in die nackteste Herrschsucht um! Wohl erhitzte man sich auch noch serner-
Hin im glänzenden Wortgefecht für politische Principien, wohl suchte, man,
sich und Andere zu überreden, daß man für ideale Ziele kämpfe. Aber hinter
allen glänzenden Phrasen verbarg sich das Streben nach der Vernichtung des
Mitbewerbers um die Macht. Lafayette hatte gewähnt, mit der Erklärung
der Menschenrechte die Freiheit zum Weltprincip, Frankreich zum Werkzeug
der Welterlösung zu machen: bei der ersten Berührung mit dem Auslande


Grenzboten U. 1871. 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/57>, abgerufen am 24.07.2024.