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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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einzig erstrebenswerthe Ziel; und daß gerade die begeistertsten Bekenner des
Rousseauschen Humanismus in ihrem beschränkten dogmatischen Eigensinn am
allerwenigsten vor dem blutigsten, die Freiheit des Individuums völlig ver¬
nichtenden Zwange bei dem Versuche, ihr Ideal zu verwirklichen, zurückschreck¬
ten, hat Robespierres Beispiel zur Genüge gezeigt.

So geschah, daß, als die Eröffnung der Nationalversammlung das Sig¬
nal zu einer großartigen und umfassenden Reformpolitik zu geben schien, die
Elemente einer Reformpartei nicht mehr vorhanden waren, während doch
bei der Schwäche der Regierung die Unterstützung einer kräftigen Partei in
der Nationalversammlung die einzige Bürgschaft gegen einen gewaltsamen
Ausbruch des revolutionären Geistes bot. Es gab vielleicht nur einen Mann
in Frankreich, der die Größe, zugleich aber auch die Grenzen der vorliegenden
Aufgabe mit voller Klarheit erkannte und dabei den Muth hatte, an der
Lösung derselben nicht zu verzweifeln. Mirabeau war aufs Tiefste von der
Ueberzeugung durchdrungen, daß das Staatswesen bis in seine Grundlagen
hinein angefressen und morsch sei; er war entschlossen, wie kein Anderer, die
schärfsten Heilmittel in Anwendung zu bringen; er schreckte selbst vor revo¬
lutionären Schritten nicht zurück, wenn kein anderes Mittel vorhanden war,
um den Widerstand des Hofes zu brechen. Aber trotz seiner von den Ver¬
hältnissen ihm aufgedrungenen gewaltsamen, oft revolutionären Methode war
er doch, was die Ziele seines Strebens bot, nichts weniger als revolutionär.
Der Gedanke, das von wilden Leidenschaften zerrissene Frankreich durch sou¬
veräne Decrete und philosophische Declarationen, durch die bloße Entfesselung
des Stromes mächtiger Begeisterung, der sich aller Gemüther bemächtigt
hatre, in einen Idealstaat nach antikem Muster, wobei man doch nicht über
Carricaturen hinauskam, umzuwandeln, erschien ihm von vornherein als ein
thörichter, verderblicher Wahn. Sein Plan, den er trotz aller Enttäuschungen
mit eiserner Zähigkeit festhielt, war, die bestehenden Gewalten, wenn auch
durch Drohung und Zwang, auf die Höhe der ihnen obliegenden Aufgaben
zu erheben, um sie zu Trägern der Umbildung des Staatswesens zu machen.
Er war ein Reformer, aber ein Reformer größten Styles. Aber wie hoch
auch Mirabeau in den Augen des ganzen Frankreich über feine Collegen sich
hob, mit wie unwiderstehlicher Gewalt er auch durch das Gewicht seiner ma¬
jestätischen Persönlichkeit, durch die Kraft seiner stets den Kern der Fragen
erfassender Rede in entscheidenden Momenten die Versammlung soririß, so ist
er doch niemals ein Parteiführer im strengen Sinne des Wortes gewor¬
den; alle seine unausgesetzten Bemühungen, eine gouvernementale Reform-
Partei zu bilden, und auf diese gestützt die Nationalversammlung von dem
stets wachsenden Einfluß der idealistischen Schwärmer und der Anarchisten zu
befreien, scheiterten nicht nur an dem Widerstand des verblendeten Hofes,


einzig erstrebenswerthe Ziel; und daß gerade die begeistertsten Bekenner des
Rousseauschen Humanismus in ihrem beschränkten dogmatischen Eigensinn am
allerwenigsten vor dem blutigsten, die Freiheit des Individuums völlig ver¬
nichtenden Zwange bei dem Versuche, ihr Ideal zu verwirklichen, zurückschreck¬
ten, hat Robespierres Beispiel zur Genüge gezeigt.

So geschah, daß, als die Eröffnung der Nationalversammlung das Sig¬
nal zu einer großartigen und umfassenden Reformpolitik zu geben schien, die
Elemente einer Reformpartei nicht mehr vorhanden waren, während doch
bei der Schwäche der Regierung die Unterstützung einer kräftigen Partei in
der Nationalversammlung die einzige Bürgschaft gegen einen gewaltsamen
Ausbruch des revolutionären Geistes bot. Es gab vielleicht nur einen Mann
in Frankreich, der die Größe, zugleich aber auch die Grenzen der vorliegenden
Aufgabe mit voller Klarheit erkannte und dabei den Muth hatte, an der
Lösung derselben nicht zu verzweifeln. Mirabeau war aufs Tiefste von der
Ueberzeugung durchdrungen, daß das Staatswesen bis in seine Grundlagen
hinein angefressen und morsch sei; er war entschlossen, wie kein Anderer, die
schärfsten Heilmittel in Anwendung zu bringen; er schreckte selbst vor revo¬
lutionären Schritten nicht zurück, wenn kein anderes Mittel vorhanden war,
um den Widerstand des Hofes zu brechen. Aber trotz seiner von den Ver¬
hältnissen ihm aufgedrungenen gewaltsamen, oft revolutionären Methode war
er doch, was die Ziele seines Strebens bot, nichts weniger als revolutionär.
Der Gedanke, das von wilden Leidenschaften zerrissene Frankreich durch sou¬
veräne Decrete und philosophische Declarationen, durch die bloße Entfesselung
des Stromes mächtiger Begeisterung, der sich aller Gemüther bemächtigt
hatre, in einen Idealstaat nach antikem Muster, wobei man doch nicht über
Carricaturen hinauskam, umzuwandeln, erschien ihm von vornherein als ein
thörichter, verderblicher Wahn. Sein Plan, den er trotz aller Enttäuschungen
mit eiserner Zähigkeit festhielt, war, die bestehenden Gewalten, wenn auch
durch Drohung und Zwang, auf die Höhe der ihnen obliegenden Aufgaben
zu erheben, um sie zu Trägern der Umbildung des Staatswesens zu machen.
Er war ein Reformer, aber ein Reformer größten Styles. Aber wie hoch
auch Mirabeau in den Augen des ganzen Frankreich über feine Collegen sich
hob, mit wie unwiderstehlicher Gewalt er auch durch das Gewicht seiner ma¬
jestätischen Persönlichkeit, durch die Kraft seiner stets den Kern der Fragen
erfassender Rede in entscheidenden Momenten die Versammlung soririß, so ist
er doch niemals ein Parteiführer im strengen Sinne des Wortes gewor¬
den; alle seine unausgesetzten Bemühungen, eine gouvernementale Reform-
Partei zu bilden, und auf diese gestützt die Nationalversammlung von dem
stets wachsenden Einfluß der idealistischen Schwärmer und der Anarchisten zu
befreien, scheiterten nicht nur an dem Widerstand des verblendeten Hofes,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/56>, abgerufen am 24.07.2024.