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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Schaden verübt hätte; das Gegentheil leuchtet weit eher ein. Denn wenn
man die Angst zu erwecken scheut, welche in Epidemien zu grassiren pflegt
und auf den Gesundheitszustand nachtheilig einwirkt, so ist noch sehr die
Frage, ob sie nicht gerade ein Kind der Fürsorge ist, welche man ihr beweist.
Werden gleich die ersten Fälle einer Cholera- und Blattern - Epidemie officiell
dem Publicum angezeigt, und damit von Tag zu Tag oder von Woche zu
Woche, je nachdem, in einfacher, nüchterner, gelassener Weise fortgefahren, so
hat das Publicum Zeit, sich an das Bewußtsein von der örtlichen Nähe der
Seuche zu gewöhnen, dieweil sie noch Niemandem dadurch besonders nahe rückt
oder bedrohlich erscheint. Es läßt folglich auch sofort denjenigen Grad von Vor¬
sicht eintreten, der seiner hygienischen Bildungsstufe entspricht. Verschweige man
ihm dagegen von Amts wegen den ersten Ausbruch, so bleibt derselbe darum
nicht geheim, aber weil die Behörde ihn doch geheim zu halten strebt, ver¬
breitet sich die Borstellung von etwas absonderlich Schrecklichem als in näch¬
ster Nähe befindlich, und bereit über Jedweden mörderisch herzufallen. Da
keine sicheren Zahlen veröffentlicht werden, hat die geängstigte Phantasie der Leute
volle Freiheit, sich das Schlimmste vorzustellen und macht davon ausschweifen¬
den Gebrauch. Die schwächende Angst vor der Seuche wird also befördert,
nicht verhütet durch officielles Geheimthun. Der Niederrheinische Verein für
öffentliche Gesundheitspflege, unter seines Gleichen leicht der erste, hatte in
diesem Sinne' bei der ersten Kunde von Cholera in Deutschland eine öffent¬
liche Aufforderung an Gemeindevorstände und Aerzte ergehen lassen, und es
war ungemein charakteristisch, wie alsbald der Zopf gewisser im Herkommen
befangener Würdenträger, ärztlicher und anderer, bedenklich zu wackeln anfing
ob so unerhörter grausamlicher Neuerung. Der tolldreiste Verein sollte sogar
in die Amtsbefugniffe königlich preußischer Landrathsämter eingegriffen haben,
und wir würden uns kaum wundern, wenn ein gesinnnngsverwandter Staats¬
anwalt ihn demnächst in Vollzahl vor irgend ein Düsseldorfer Gericht schleppte.

Die Blattern-Epidemie hat dies Mal allem Anschein nach positiv wie
negativ gezeigt, daß durch verständiges amtliches Zuthun außerordentlich viel
geschehen kann, um dem Wüthen derartiger Seuchen Einhalt zu thun. Hoffent¬
lich erhalten wir aus recht vielen Städten authentische Berichte über ihren
Verlauf durch die vortreffliche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege, welche jetzt G. Varrentrapp in Frankfurt a. M. leitet. Bis jetzt
sind unseres Wissens statistische Zahlen nur über den Gang der Epidemie in
Bremen bekannt geworden, wo ein einsichtiger Polizeidirector mit Hilft des
Gesundheitsraths von Anfang an zweckmäßig und energisch eingegriffen zu
haben scheint, und wo trotz wiederholter Einschleppung von außen während
dreier Bierteljahre unter 80,000 Menschen nur 284 Erkrankungen mit 35
Todesfällen, darunter 11 von nicht geimpften Kindern, vorgekommen sind.


Schaden verübt hätte; das Gegentheil leuchtet weit eher ein. Denn wenn
man die Angst zu erwecken scheut, welche in Epidemien zu grassiren pflegt
und auf den Gesundheitszustand nachtheilig einwirkt, so ist noch sehr die
Frage, ob sie nicht gerade ein Kind der Fürsorge ist, welche man ihr beweist.
Werden gleich die ersten Fälle einer Cholera- und Blattern - Epidemie officiell
dem Publicum angezeigt, und damit von Tag zu Tag oder von Woche zu
Woche, je nachdem, in einfacher, nüchterner, gelassener Weise fortgefahren, so
hat das Publicum Zeit, sich an das Bewußtsein von der örtlichen Nähe der
Seuche zu gewöhnen, dieweil sie noch Niemandem dadurch besonders nahe rückt
oder bedrohlich erscheint. Es läßt folglich auch sofort denjenigen Grad von Vor¬
sicht eintreten, der seiner hygienischen Bildungsstufe entspricht. Verschweige man
ihm dagegen von Amts wegen den ersten Ausbruch, so bleibt derselbe darum
nicht geheim, aber weil die Behörde ihn doch geheim zu halten strebt, ver¬
breitet sich die Borstellung von etwas absonderlich Schrecklichem als in näch¬
ster Nähe befindlich, und bereit über Jedweden mörderisch herzufallen. Da
keine sicheren Zahlen veröffentlicht werden, hat die geängstigte Phantasie der Leute
volle Freiheit, sich das Schlimmste vorzustellen und macht davon ausschweifen¬
den Gebrauch. Die schwächende Angst vor der Seuche wird also befördert,
nicht verhütet durch officielles Geheimthun. Der Niederrheinische Verein für
öffentliche Gesundheitspflege, unter seines Gleichen leicht der erste, hatte in
diesem Sinne' bei der ersten Kunde von Cholera in Deutschland eine öffent¬
liche Aufforderung an Gemeindevorstände und Aerzte ergehen lassen, und es
war ungemein charakteristisch, wie alsbald der Zopf gewisser im Herkommen
befangener Würdenträger, ärztlicher und anderer, bedenklich zu wackeln anfing
ob so unerhörter grausamlicher Neuerung. Der tolldreiste Verein sollte sogar
in die Amtsbefugniffe königlich preußischer Landrathsämter eingegriffen haben,
und wir würden uns kaum wundern, wenn ein gesinnnngsverwandter Staats¬
anwalt ihn demnächst in Vollzahl vor irgend ein Düsseldorfer Gericht schleppte.

Die Blattern-Epidemie hat dies Mal allem Anschein nach positiv wie
negativ gezeigt, daß durch verständiges amtliches Zuthun außerordentlich viel
geschehen kann, um dem Wüthen derartiger Seuchen Einhalt zu thun. Hoffent¬
lich erhalten wir aus recht vielen Städten authentische Berichte über ihren
Verlauf durch die vortreffliche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege, welche jetzt G. Varrentrapp in Frankfurt a. M. leitet. Bis jetzt
sind unseres Wissens statistische Zahlen nur über den Gang der Epidemie in
Bremen bekannt geworden, wo ein einsichtiger Polizeidirector mit Hilft des
Gesundheitsraths von Anfang an zweckmäßig und energisch eingegriffen zu
haben scheint, und wo trotz wiederholter Einschleppung von außen während
dreier Bierteljahre unter 80,000 Menschen nur 284 Erkrankungen mit 35
Todesfällen, darunter 11 von nicht geimpften Kindern, vorgekommen sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/565>, abgerufen am 24.07.2024.