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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Natürlich werden die günstigen allgemeinen Lebens- und Wohnungsverhält¬
nisse Bremens dabei mitgewirkt haben; es bleibt aber doch aller Wahrschein¬
lichkeit nach ein Rest, welchen nur das erfolgte praktische Eingreifen erklärt.
Aus der englischen Medicinalstatistik wissen wir ja soviel mit hinlänglicher
Sicherheit, daß durchgreifende hygienische Maßregeln wohl im Stande sind,
den Erkrankungs- und Sterblichkeitssatz einer bestimmten Bevölkerungsmenge
merklich einzuschränken.

Berlin, Köln, Leipzig, Bremen und andere Städte werden Angesichts der
heranrückenden Cholera systematisch auf vorhandene Brutstätten epidemischen Gif¬
tes untersucht. Keine Stadt aber, deucht uns, sollte diese erste, einfachste und
gebotenste aller Vorsichtsmaßregeln unterlassen. Kommt die Cholera nicht, so
ist die Mühe darum doch keineswegs vergeudet; die gemachten Entdeckungen
werden dahin führen, daß man das Leben im Orte auch für gewöhnliche
Zeiten gesunder, reinlicher und angenehmer gestaltet, und über der Unter¬
suchung wird sich gesundheitspflegensches Wissen ganz von selbst in Fülle
durch weitere örtliche Kreise verbreiten. Zu diesem letzteren Zwecke ist beson¬
ders dienlich, wenn man eine größere Zahl freiwillig einspringender Bürger
an der Stadtuntersuchung theilnehmen läßt, sei es daß sie eigens dafür be¬
rufen werden, sei es daß ein auch sonst wirksamer Verein für öffentliche Ge¬
sundheitspflege sie der Behörde stellt oder etwa auch auf eigene Hand die
Arbeit vornimmt.

Seit einem halben Jahrzehnt sind hier und da in Deutschland Vereine
für öffentliche Gesundheitspflege entstanden, theils städtisch begrenzt, theils
provinziell ausgebreitet. Aber es fehlt noch ein ganz passendes Gefäß für
diese Bestrebungen im Mittelpunkt. Wir haben allerdings die Section für
Gesundheitspflege bei dem Congreß deutscher Naturforscher und Aerzte, die
eben in Rostock getagt hat, und in ihr finden sich alljährlich die meisten der
praktischen Hygieniker und Medicinalreformer Deutschlands zusammen. Allein
als bloße Section eines wesentlich andern Interessen gewidmeten Congresses
wird dieses Gefäß niemals auch nur der Hauptmasse nach alle die in sich auf¬
nehmen könne, die es doch einschließen muß, wenn der Zweck einigermaßen
erreicht werden soll. Gemeindebcamte, Stadtverordnete, Lehrer, Publicisten
u. s. w. werden in größerer Zahl nicht zu einer Wanderversammlung kommen,
welche sie bloß in einem Nebenzimmer duldet, nicht ausdrücklich in ihren
Hauptraum einladet. Die Aerzte und Gelehrten aber, welche ihr zuströmen,
haben selten ein entscheidendes Wort auf praktischem hygienischem Gebiet. Eine
Ablösung der Gesundheitspflege-Section von dem Naturforscher-Congreß
hätte auch noch den weiteren Vortheil, die seit der Dresdener Versammlung
bestehenden unerquicklichen Zwistigkeiten über die Fassung von Resolutionen,
welche von den Hygienikern ebenso entschieden und rechtmäßig begehrt, wie


Natürlich werden die günstigen allgemeinen Lebens- und Wohnungsverhält¬
nisse Bremens dabei mitgewirkt haben; es bleibt aber doch aller Wahrschein¬
lichkeit nach ein Rest, welchen nur das erfolgte praktische Eingreifen erklärt.
Aus der englischen Medicinalstatistik wissen wir ja soviel mit hinlänglicher
Sicherheit, daß durchgreifende hygienische Maßregeln wohl im Stande sind,
den Erkrankungs- und Sterblichkeitssatz einer bestimmten Bevölkerungsmenge
merklich einzuschränken.

Berlin, Köln, Leipzig, Bremen und andere Städte werden Angesichts der
heranrückenden Cholera systematisch auf vorhandene Brutstätten epidemischen Gif¬
tes untersucht. Keine Stadt aber, deucht uns, sollte diese erste, einfachste und
gebotenste aller Vorsichtsmaßregeln unterlassen. Kommt die Cholera nicht, so
ist die Mühe darum doch keineswegs vergeudet; die gemachten Entdeckungen
werden dahin führen, daß man das Leben im Orte auch für gewöhnliche
Zeiten gesunder, reinlicher und angenehmer gestaltet, und über der Unter¬
suchung wird sich gesundheitspflegensches Wissen ganz von selbst in Fülle
durch weitere örtliche Kreise verbreiten. Zu diesem letzteren Zwecke ist beson¬
ders dienlich, wenn man eine größere Zahl freiwillig einspringender Bürger
an der Stadtuntersuchung theilnehmen läßt, sei es daß sie eigens dafür be¬
rufen werden, sei es daß ein auch sonst wirksamer Verein für öffentliche Ge¬
sundheitspflege sie der Behörde stellt oder etwa auch auf eigene Hand die
Arbeit vornimmt.

Seit einem halben Jahrzehnt sind hier und da in Deutschland Vereine
für öffentliche Gesundheitspflege entstanden, theils städtisch begrenzt, theils
provinziell ausgebreitet. Aber es fehlt noch ein ganz passendes Gefäß für
diese Bestrebungen im Mittelpunkt. Wir haben allerdings die Section für
Gesundheitspflege bei dem Congreß deutscher Naturforscher und Aerzte, die
eben in Rostock getagt hat, und in ihr finden sich alljährlich die meisten der
praktischen Hygieniker und Medicinalreformer Deutschlands zusammen. Allein
als bloße Section eines wesentlich andern Interessen gewidmeten Congresses
wird dieses Gefäß niemals auch nur der Hauptmasse nach alle die in sich auf¬
nehmen könne, die es doch einschließen muß, wenn der Zweck einigermaßen
erreicht werden soll. Gemeindebcamte, Stadtverordnete, Lehrer, Publicisten
u. s. w. werden in größerer Zahl nicht zu einer Wanderversammlung kommen,
welche sie bloß in einem Nebenzimmer duldet, nicht ausdrücklich in ihren
Hauptraum einladet. Die Aerzte und Gelehrten aber, welche ihr zuströmen,
haben selten ein entscheidendes Wort auf praktischem hygienischem Gebiet. Eine
Ablösung der Gesundheitspflege-Section von dem Naturforscher-Congreß
hätte auch noch den weiteren Vortheil, die seit der Dresdener Versammlung
bestehenden unerquicklichen Zwistigkeiten über die Fassung von Resolutionen,
welche von den Hygienikern ebenso entschieden und rechtmäßig begehrt, wie


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[0566] Natürlich werden die günstigen allgemeinen Lebens- und Wohnungsverhält¬ nisse Bremens dabei mitgewirkt haben; es bleibt aber doch aller Wahrschein¬ lichkeit nach ein Rest, welchen nur das erfolgte praktische Eingreifen erklärt. Aus der englischen Medicinalstatistik wissen wir ja soviel mit hinlänglicher Sicherheit, daß durchgreifende hygienische Maßregeln wohl im Stande sind, den Erkrankungs- und Sterblichkeitssatz einer bestimmten Bevölkerungsmenge merklich einzuschränken. Berlin, Köln, Leipzig, Bremen und andere Städte werden Angesichts der heranrückenden Cholera systematisch auf vorhandene Brutstätten epidemischen Gif¬ tes untersucht. Keine Stadt aber, deucht uns, sollte diese erste, einfachste und gebotenste aller Vorsichtsmaßregeln unterlassen. Kommt die Cholera nicht, so ist die Mühe darum doch keineswegs vergeudet; die gemachten Entdeckungen werden dahin führen, daß man das Leben im Orte auch für gewöhnliche Zeiten gesunder, reinlicher und angenehmer gestaltet, und über der Unter¬ suchung wird sich gesundheitspflegensches Wissen ganz von selbst in Fülle durch weitere örtliche Kreise verbreiten. Zu diesem letzteren Zwecke ist beson¬ ders dienlich, wenn man eine größere Zahl freiwillig einspringender Bürger an der Stadtuntersuchung theilnehmen läßt, sei es daß sie eigens dafür be¬ rufen werden, sei es daß ein auch sonst wirksamer Verein für öffentliche Ge¬ sundheitspflege sie der Behörde stellt oder etwa auch auf eigene Hand die Arbeit vornimmt. Seit einem halben Jahrzehnt sind hier und da in Deutschland Vereine für öffentliche Gesundheitspflege entstanden, theils städtisch begrenzt, theils provinziell ausgebreitet. Aber es fehlt noch ein ganz passendes Gefäß für diese Bestrebungen im Mittelpunkt. Wir haben allerdings die Section für Gesundheitspflege bei dem Congreß deutscher Naturforscher und Aerzte, die eben in Rostock getagt hat, und in ihr finden sich alljährlich die meisten der praktischen Hygieniker und Medicinalreformer Deutschlands zusammen. Allein als bloße Section eines wesentlich andern Interessen gewidmeten Congresses wird dieses Gefäß niemals auch nur der Hauptmasse nach alle die in sich auf¬ nehmen könne, die es doch einschließen muß, wenn der Zweck einigermaßen erreicht werden soll. Gemeindebcamte, Stadtverordnete, Lehrer, Publicisten u. s. w. werden in größerer Zahl nicht zu einer Wanderversammlung kommen, welche sie bloß in einem Nebenzimmer duldet, nicht ausdrücklich in ihren Hauptraum einladet. Die Aerzte und Gelehrten aber, welche ihr zuströmen, haben selten ein entscheidendes Wort auf praktischem hygienischem Gebiet. Eine Ablösung der Gesundheitspflege-Section von dem Naturforscher-Congreß hätte auch noch den weiteren Vortheil, die seit der Dresdener Versammlung bestehenden unerquicklichen Zwistigkeiten über die Fassung von Resolutionen, welche von den Hygienikern ebenso entschieden und rechtmäßig begehrt, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/566>, abgerufen am 24.07.2024.