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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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zur Sprache bringe", die nicht rein medicinischer, sondern eben so sehr politi¬
scher und socialer Natur sind.

Indem die Heilkunde sich zur öffentlichen Gesundheitspflege fortentwickelt
hat, hörte sie freilich im Grunde überhaupt schon auf, ein abgeschlossenes
Fachwissen zu sein. Die Aufgaben, welche sie sich von da ab zu stellen hatte,
vermag ein einzelner Berufsstand allein nicht mehr zu lösen; sie sind auch'so
zusammengesetzter Natur, daß die specielle Fachkunde der Aerzte nicht länger
die einzige ist, auf welche es ankommt. Architekten und aridere Techniker
müssen hinzutreten. Zugleich aber greifen die nun im Vordergrunde stehenden
Fragen so tief in alle Lebensverhältnisse ein, daß man sich einerseits nicht
wundern darf, wenn immer mehr Laien sich intensiv mit den hygienischen
Problemen des Tages beschäftigen, und daß man andrerseits gar oft, um
überhaupt durchzuringen, des verständnißvollen Beistandes thätiger und ein¬
flußreicher Männer aus allen Schichten der Bevölkerung bedarf.

Diesem Umschwunge sollten die Mediciner als Stand das ohnehin zeit¬
gemäße Zugeständnis; machen, ihr lateinisches Standes-Kauderwelsch so bald
und umfassend wie möglich in ein gemeinfaßliches gesundes Deutsch zu über¬
tragen. Wozu eine besondere Sprache, gleich Studenten oder Gaunern, wenn
man doch aufhören will, sich in den geheimnißvollen Nimbus des Charlatans
zu hüllen? und wozu lateinische Recepte, wenn nachgerade der Aberglaube als
überwunden gelten darf oder doch mindestens nicht mehr geschont werden soll,
als könnten Medicamente Krankheiten austreiben? Die herkömmliche Termi¬
nologie ist ein schwereres Hinderniß, als die an sie gewöhnten Aerzte und
Professoren meistens glauben, daß die neuen Lehren der Hygiene sich so rasch
ausbreiten, wie zu wünschen wäre. Sie schreckt die ganze nicht philologisch
gebildete Welt schon von der Schwelle des Heiligthums zurück. Warum muß
man Phthisis sagen statt Schwindsucht, Desinfection statt Entgiftung, In¬
halation statt Einathmung u. s. f.? Nichts komischer als ein Vortrag über
Gesundheitspflege, der sich an das Verständniß Jedermanns aus dem Volke
wenden will, und gar nicht merkt, daß er mit seinen entbehrlichen, leicht
übersetzbaren technischen Ausdrücken alle paar Schritte einen nicht zu über¬
steigenden Block zwischen sich und seine Hörer wälzt!

Wie aber die ärztliche Sprache, so muß auch das sanitätspolizeiliche Ver¬
fahren aus der alten überlebten Heimlichkeit heraus. Nur zu vielerwärts be¬
steht bei den Behörden noch die Praxis, Fälle epidemischer Erkrankungen so
lange wie möglich geheim zu halten, und die Aerzte glauben gewöhnlich, was
sie von ihrem Standpunkt mißbilligen müssen, der vermeintlichen oder wirk¬
lichen höhern Einsicht von Polizeidirectoren, Magistratsbeamten oder Regie¬
rungsräthen in die socialpolitische Seite der Sache zugestehen zu sollen. Es
ist aber schwerlich nachzuweisen, daß volle Oeffentlichkeit jemals thatsächlichen


zur Sprache bringe», die nicht rein medicinischer, sondern eben so sehr politi¬
scher und socialer Natur sind.

Indem die Heilkunde sich zur öffentlichen Gesundheitspflege fortentwickelt
hat, hörte sie freilich im Grunde überhaupt schon auf, ein abgeschlossenes
Fachwissen zu sein. Die Aufgaben, welche sie sich von da ab zu stellen hatte,
vermag ein einzelner Berufsstand allein nicht mehr zu lösen; sie sind auch'so
zusammengesetzter Natur, daß die specielle Fachkunde der Aerzte nicht länger
die einzige ist, auf welche es ankommt. Architekten und aridere Techniker
müssen hinzutreten. Zugleich aber greifen die nun im Vordergrunde stehenden
Fragen so tief in alle Lebensverhältnisse ein, daß man sich einerseits nicht
wundern darf, wenn immer mehr Laien sich intensiv mit den hygienischen
Problemen des Tages beschäftigen, und daß man andrerseits gar oft, um
überhaupt durchzuringen, des verständnißvollen Beistandes thätiger und ein¬
flußreicher Männer aus allen Schichten der Bevölkerung bedarf.

Diesem Umschwunge sollten die Mediciner als Stand das ohnehin zeit¬
gemäße Zugeständnis; machen, ihr lateinisches Standes-Kauderwelsch so bald
und umfassend wie möglich in ein gemeinfaßliches gesundes Deutsch zu über¬
tragen. Wozu eine besondere Sprache, gleich Studenten oder Gaunern, wenn
man doch aufhören will, sich in den geheimnißvollen Nimbus des Charlatans
zu hüllen? und wozu lateinische Recepte, wenn nachgerade der Aberglaube als
überwunden gelten darf oder doch mindestens nicht mehr geschont werden soll,
als könnten Medicamente Krankheiten austreiben? Die herkömmliche Termi¬
nologie ist ein schwereres Hinderniß, als die an sie gewöhnten Aerzte und
Professoren meistens glauben, daß die neuen Lehren der Hygiene sich so rasch
ausbreiten, wie zu wünschen wäre. Sie schreckt die ganze nicht philologisch
gebildete Welt schon von der Schwelle des Heiligthums zurück. Warum muß
man Phthisis sagen statt Schwindsucht, Desinfection statt Entgiftung, In¬
halation statt Einathmung u. s. f.? Nichts komischer als ein Vortrag über
Gesundheitspflege, der sich an das Verständniß Jedermanns aus dem Volke
wenden will, und gar nicht merkt, daß er mit seinen entbehrlichen, leicht
übersetzbaren technischen Ausdrücken alle paar Schritte einen nicht zu über¬
steigenden Block zwischen sich und seine Hörer wälzt!

Wie aber die ärztliche Sprache, so muß auch das sanitätspolizeiliche Ver¬
fahren aus der alten überlebten Heimlichkeit heraus. Nur zu vielerwärts be¬
steht bei den Behörden noch die Praxis, Fälle epidemischer Erkrankungen so
lange wie möglich geheim zu halten, und die Aerzte glauben gewöhnlich, was
sie von ihrem Standpunkt mißbilligen müssen, der vermeintlichen oder wirk¬
lichen höhern Einsicht von Polizeidirectoren, Magistratsbeamten oder Regie¬
rungsräthen in die socialpolitische Seite der Sache zugestehen zu sollen. Es
ist aber schwerlich nachzuweisen, daß volle Oeffentlichkeit jemals thatsächlichen


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[0564] zur Sprache bringe», die nicht rein medicinischer, sondern eben so sehr politi¬ scher und socialer Natur sind. Indem die Heilkunde sich zur öffentlichen Gesundheitspflege fortentwickelt hat, hörte sie freilich im Grunde überhaupt schon auf, ein abgeschlossenes Fachwissen zu sein. Die Aufgaben, welche sie sich von da ab zu stellen hatte, vermag ein einzelner Berufsstand allein nicht mehr zu lösen; sie sind auch'so zusammengesetzter Natur, daß die specielle Fachkunde der Aerzte nicht länger die einzige ist, auf welche es ankommt. Architekten und aridere Techniker müssen hinzutreten. Zugleich aber greifen die nun im Vordergrunde stehenden Fragen so tief in alle Lebensverhältnisse ein, daß man sich einerseits nicht wundern darf, wenn immer mehr Laien sich intensiv mit den hygienischen Problemen des Tages beschäftigen, und daß man andrerseits gar oft, um überhaupt durchzuringen, des verständnißvollen Beistandes thätiger und ein¬ flußreicher Männer aus allen Schichten der Bevölkerung bedarf. Diesem Umschwunge sollten die Mediciner als Stand das ohnehin zeit¬ gemäße Zugeständnis; machen, ihr lateinisches Standes-Kauderwelsch so bald und umfassend wie möglich in ein gemeinfaßliches gesundes Deutsch zu über¬ tragen. Wozu eine besondere Sprache, gleich Studenten oder Gaunern, wenn man doch aufhören will, sich in den geheimnißvollen Nimbus des Charlatans zu hüllen? und wozu lateinische Recepte, wenn nachgerade der Aberglaube als überwunden gelten darf oder doch mindestens nicht mehr geschont werden soll, als könnten Medicamente Krankheiten austreiben? Die herkömmliche Termi¬ nologie ist ein schwereres Hinderniß, als die an sie gewöhnten Aerzte und Professoren meistens glauben, daß die neuen Lehren der Hygiene sich so rasch ausbreiten, wie zu wünschen wäre. Sie schreckt die ganze nicht philologisch gebildete Welt schon von der Schwelle des Heiligthums zurück. Warum muß man Phthisis sagen statt Schwindsucht, Desinfection statt Entgiftung, In¬ halation statt Einathmung u. s. f.? Nichts komischer als ein Vortrag über Gesundheitspflege, der sich an das Verständniß Jedermanns aus dem Volke wenden will, und gar nicht merkt, daß er mit seinen entbehrlichen, leicht übersetzbaren technischen Ausdrücken alle paar Schritte einen nicht zu über¬ steigenden Block zwischen sich und seine Hörer wälzt! Wie aber die ärztliche Sprache, so muß auch das sanitätspolizeiliche Ver¬ fahren aus der alten überlebten Heimlichkeit heraus. Nur zu vielerwärts be¬ steht bei den Behörden noch die Praxis, Fälle epidemischer Erkrankungen so lange wie möglich geheim zu halten, und die Aerzte glauben gewöhnlich, was sie von ihrem Standpunkt mißbilligen müssen, der vermeintlichen oder wirk¬ lichen höhern Einsicht von Polizeidirectoren, Magistratsbeamten oder Regie¬ rungsräthen in die socialpolitische Seite der Sache zugestehen zu sollen. Es ist aber schwerlich nachzuweisen, daß volle Oeffentlichkeit jemals thatsächlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/564>, abgerufen am 24.07.2024.