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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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ter der Erde in sicherer unangreifbarer Höhe zu thronen wähnten, so über¬
schütteten sie selbst die geistreichen Spötter mit Beifall; denn Spott und
Witz gehörten zum guten Ton. Wer dachte an die tödtlichen Wirkungen des
berauschenden Trankes, den der bohrende und zersetzende französische Esprit
dem Reichthum, dem Range, der Schönheit in blumengeschmückten Schalen
credenzte? Wer in der hohen Gesellschaft dachte, daß, während man vornehm
und geistreich tändelnd mit den Ideen spielte, dieselben bereits ansingen, in
alle Classen des Volkes einzudringen, das Bürgerthum mit Begeisterung und
stolzen Hoffnungen erfüllend, die Massen zu Haß und Erbitterung gegen Alles
das aufreizend, dessen Druck sie lange duldend und schweigend getragen hat¬
ten ? Ganz unvermerkt hörte die Philosophie auf, ein Privilegium der vorneh¬
men Stände zu sein, Sie wurde ganz ihren nivellirenden und eben deshalb
zugleich centralisirenden Tendenzen gemäß zunächst ein Besitzthum des gebil¬
deten Bürgerstandes, der nicht säumte, ihre Resultate in faßlicher Form der
gesammten Nation zugänglich zu machen. Je weitere Ausbreitung die neue
Lehre aber gewann, um so kräftiger machte sich das lange mit instinctmäßiger
Schlauheit zurückgedrängte Streben geltend, ihre Resultate praktisch zu ver-
werthen. Hatte sie bis dahin sich vorzugsweise mit den Grundlagen der Ge¬
sellschaft in theoretisch kritisirender Weise beschäftigt, so ging sie allmälich
zum directen Angriff auf die bestehenden Staatsverhältnisse über, um auf den
Trümmern des alten Staates nach ihren Verstandesabstractionen einen idealen
Neubau aufzuführen. Hier zeigte sich die Fähigkeit der Franzosen, einen Ge¬
danken verstandesmäßig bis in seine äußersten Consequenzen zu einem formal
vollendeten System auszubilden, in seinem glänzendsten Lichte. Ebenso trat
aber auch in dem naiven Glauben an die Realität dieser Verstandesconstruc-
tionen, in dem starken Selbstvertrauen, mit dem man die zerrüttete französische
Gesellschaft den Gesetzen eines geistreich ersonnenen, aber jeder realen Grund¬
lage entbehrenden Staatswesens zu unterwerfen hoffte, die ganze Schwäche
des Staatssinns der Franzosen hervor. Zwar die deformeren Politiker der
sich bildenden neuen Schule standen im Allgemeinen noch unter dem Einfluß
Montesquieus und sahen ihr Ideal in der englischen Verfassung; sie hatten,
so unhistorisch es auch war, die Verfassung Englands ohne Weiteres in das
despotisch centralisirte Frankreich verpflanzen zu wollen, doch noch einen ver¬
hältnißmäßig festen Boden unter den Füßen. Aber sie waren bereits, ehe
die Revolution zum Ausbruch kam, weit überholt von den Schwärmern, die
vornehmlich unter der Herrschaft der Rousseauschen Ideen standen und die
Frankreich als tabula rasa, betrachteten, auf dem ein Gebäude politischer und
socialer Gleichheit zu errichten sei. Für die Schüler Rousseaus war die Frei¬
heit nur ein tönendes Wort; die zwangsweise Wiederherstellung eines ver¬
meintlichen Naturzustandes der Gleichheit und Brüderlichkeit war ihnen das


ter der Erde in sicherer unangreifbarer Höhe zu thronen wähnten, so über¬
schütteten sie selbst die geistreichen Spötter mit Beifall; denn Spott und
Witz gehörten zum guten Ton. Wer dachte an die tödtlichen Wirkungen des
berauschenden Trankes, den der bohrende und zersetzende französische Esprit
dem Reichthum, dem Range, der Schönheit in blumengeschmückten Schalen
credenzte? Wer in der hohen Gesellschaft dachte, daß, während man vornehm
und geistreich tändelnd mit den Ideen spielte, dieselben bereits ansingen, in
alle Classen des Volkes einzudringen, das Bürgerthum mit Begeisterung und
stolzen Hoffnungen erfüllend, die Massen zu Haß und Erbitterung gegen Alles
das aufreizend, dessen Druck sie lange duldend und schweigend getragen hat¬
ten ? Ganz unvermerkt hörte die Philosophie auf, ein Privilegium der vorneh¬
men Stände zu sein, Sie wurde ganz ihren nivellirenden und eben deshalb
zugleich centralisirenden Tendenzen gemäß zunächst ein Besitzthum des gebil¬
deten Bürgerstandes, der nicht säumte, ihre Resultate in faßlicher Form der
gesammten Nation zugänglich zu machen. Je weitere Ausbreitung die neue
Lehre aber gewann, um so kräftiger machte sich das lange mit instinctmäßiger
Schlauheit zurückgedrängte Streben geltend, ihre Resultate praktisch zu ver-
werthen. Hatte sie bis dahin sich vorzugsweise mit den Grundlagen der Ge¬
sellschaft in theoretisch kritisirender Weise beschäftigt, so ging sie allmälich
zum directen Angriff auf die bestehenden Staatsverhältnisse über, um auf den
Trümmern des alten Staates nach ihren Verstandesabstractionen einen idealen
Neubau aufzuführen. Hier zeigte sich die Fähigkeit der Franzosen, einen Ge¬
danken verstandesmäßig bis in seine äußersten Consequenzen zu einem formal
vollendeten System auszubilden, in seinem glänzendsten Lichte. Ebenso trat
aber auch in dem naiven Glauben an die Realität dieser Verstandesconstruc-
tionen, in dem starken Selbstvertrauen, mit dem man die zerrüttete französische
Gesellschaft den Gesetzen eines geistreich ersonnenen, aber jeder realen Grund¬
lage entbehrenden Staatswesens zu unterwerfen hoffte, die ganze Schwäche
des Staatssinns der Franzosen hervor. Zwar die deformeren Politiker der
sich bildenden neuen Schule standen im Allgemeinen noch unter dem Einfluß
Montesquieus und sahen ihr Ideal in der englischen Verfassung; sie hatten,
so unhistorisch es auch war, die Verfassung Englands ohne Weiteres in das
despotisch centralisirte Frankreich verpflanzen zu wollen, doch noch einen ver¬
hältnißmäßig festen Boden unter den Füßen. Aber sie waren bereits, ehe
die Revolution zum Ausbruch kam, weit überholt von den Schwärmern, die
vornehmlich unter der Herrschaft der Rousseauschen Ideen standen und die
Frankreich als tabula rasa, betrachteten, auf dem ein Gebäude politischer und
socialer Gleichheit zu errichten sei. Für die Schüler Rousseaus war die Frei¬
heit nur ein tönendes Wort; die zwangsweise Wiederherstellung eines ver¬
meintlichen Naturzustandes der Gleichheit und Brüderlichkeit war ihnen das


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[0055] ter der Erde in sicherer unangreifbarer Höhe zu thronen wähnten, so über¬ schütteten sie selbst die geistreichen Spötter mit Beifall; denn Spott und Witz gehörten zum guten Ton. Wer dachte an die tödtlichen Wirkungen des berauschenden Trankes, den der bohrende und zersetzende französische Esprit dem Reichthum, dem Range, der Schönheit in blumengeschmückten Schalen credenzte? Wer in der hohen Gesellschaft dachte, daß, während man vornehm und geistreich tändelnd mit den Ideen spielte, dieselben bereits ansingen, in alle Classen des Volkes einzudringen, das Bürgerthum mit Begeisterung und stolzen Hoffnungen erfüllend, die Massen zu Haß und Erbitterung gegen Alles das aufreizend, dessen Druck sie lange duldend und schweigend getragen hat¬ ten ? Ganz unvermerkt hörte die Philosophie auf, ein Privilegium der vorneh¬ men Stände zu sein, Sie wurde ganz ihren nivellirenden und eben deshalb zugleich centralisirenden Tendenzen gemäß zunächst ein Besitzthum des gebil¬ deten Bürgerstandes, der nicht säumte, ihre Resultate in faßlicher Form der gesammten Nation zugänglich zu machen. Je weitere Ausbreitung die neue Lehre aber gewann, um so kräftiger machte sich das lange mit instinctmäßiger Schlauheit zurückgedrängte Streben geltend, ihre Resultate praktisch zu ver- werthen. Hatte sie bis dahin sich vorzugsweise mit den Grundlagen der Ge¬ sellschaft in theoretisch kritisirender Weise beschäftigt, so ging sie allmälich zum directen Angriff auf die bestehenden Staatsverhältnisse über, um auf den Trümmern des alten Staates nach ihren Verstandesabstractionen einen idealen Neubau aufzuführen. Hier zeigte sich die Fähigkeit der Franzosen, einen Ge¬ danken verstandesmäßig bis in seine äußersten Consequenzen zu einem formal vollendeten System auszubilden, in seinem glänzendsten Lichte. Ebenso trat aber auch in dem naiven Glauben an die Realität dieser Verstandesconstruc- tionen, in dem starken Selbstvertrauen, mit dem man die zerrüttete französische Gesellschaft den Gesetzen eines geistreich ersonnenen, aber jeder realen Grund¬ lage entbehrenden Staatswesens zu unterwerfen hoffte, die ganze Schwäche des Staatssinns der Franzosen hervor. Zwar die deformeren Politiker der sich bildenden neuen Schule standen im Allgemeinen noch unter dem Einfluß Montesquieus und sahen ihr Ideal in der englischen Verfassung; sie hatten, so unhistorisch es auch war, die Verfassung Englands ohne Weiteres in das despotisch centralisirte Frankreich verpflanzen zu wollen, doch noch einen ver¬ hältnißmäßig festen Boden unter den Füßen. Aber sie waren bereits, ehe die Revolution zum Ausbruch kam, weit überholt von den Schwärmern, die vornehmlich unter der Herrschaft der Rousseauschen Ideen standen und die Frankreich als tabula rasa, betrachteten, auf dem ein Gebäude politischer und socialer Gleichheit zu errichten sei. Für die Schüler Rousseaus war die Frei¬ heit nur ein tönendes Wort; die zwangsweise Wiederherstellung eines ver¬ meintlichen Naturzustandes der Gleichheit und Brüderlichkeit war ihnen das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/55>, abgerufen am 24.07.2024.