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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Natur zu nehmen. Klopstock hatte im nordischen Aufseher (Se. 10S) gesagt,
das Wesen der Ode, ihr Haupttor sei nun einmal durch Horaz bestimmt;
er sei so sehr Muster, daß der Werth neuerer Oden sich schlechterdings nur nach der
Frage entscheide, ob Horaz die vorliegende Materie so ausgeführt haben würde.

Herder: Ich verehre den Horaz; aber aus Liebe zu meiner Persönlichkeit
wünschte ich oft ihn nicht zu kennen. An die Stelle der gekünstelter, steifen,
nur zu prunkender Declamation geeigneten Ode will er das einfache, schlichte,
von echt nationaler Empfindung getragene, gesungene Lied gesetzt wissen,
dessen Eigenschaften oben nach feiner Darstellung beschrieben wurden.

Was die Gleimsche Romanze anbetrifft, so beklagt er tief, daß diese einst
'so edle und feierliche Dichtungsart zu nichts als zum Niedrigkomischen und
Abenteuerlichen gemißbraucht werde. In ihrer ursprünglichen Form könnte
sie, wie alle echten und reinen Natur- und Volksgesänge, so sehr dazu bei¬
tragen, unsere Lyrik zu "vereinfältigen" und uns von manchem drückenden
Schmuck befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden ist. In ihrer alten
Gestalt war sie den von Perry gesammelten Balladen ähnlich; an ihnen mag
man ihre Weise sich vorstellig machen, oder besser, diese Weise möge man in's
Ohr klingen und in echt deutschen Liedern neu ertönen lassen.

Ueberhaupt forderte er, man solle die frischen, Waldesgeruch anstatt Stu¬
benduft athmenden Gesänge aus allen Zonen und Zeiten sammeln; nament¬
lich im eigenen Lande auf ihr Tönen und Klingen, auf die Weisen der Lie¬
der achten, die das natürlich empfindende Volk singt. Was seine eigene
Sammlung unter allerlei Volk und Zeit ihm eingetragen, veröffentlichte er
1778 und 1779; erst 1806 ließen Clemens Brentano und sein Schwager Ar-
nim im "Wunderhorn", das sie Herder's Schüler, Goethe widmeten, die
"frische Luft altdeutschen Wandels" wehen.

Mit dergleichen Liedern und Romanzen wollte Herder freilich nicht neue
Muster zur Nachahmung hinstellen; er nannte sie "Materialien zur Dicht¬
kunst", nicht als sollte ihnen, wie Opitz sich einst ausgedrückt hatte, "der
richtige Griff" abgelernt, ihnen Form und Einkleidung nachgemacht werden,
als sollten sie nun wieder Gegenstände eines glossirenden Studiums, Vorlagen
zu neuen Exercitien sein; sondern das sinnige Dichtergemüth sollte auf Ton
und Weise, aus den melodischen Gang der Leidenschaft und Empfindung lau¬
schen, und ihn rein und voll in sich wiederklingen lassen.

Man belebe und erfrische an diesen würzigen, seelenvollen, rührenden
Gesängen die durch nüchternes Studium, durch die Convenienzen des Alltags¬
lebens matt, lahm und stumpf gewordene Seele, bade sie in diesem kühlen
Jungbrunnen wieder frisch und gesund: dann wird man endlich noch einmal
abkommen von dem Reflectiren, Cirkeln und Rechnen, endlich zu reiner und
ursprünglicher Poesie den Rückweg gewinnen, endlich wieder singen wie die


Natur zu nehmen. Klopstock hatte im nordischen Aufseher (Se. 10S) gesagt,
das Wesen der Ode, ihr Haupttor sei nun einmal durch Horaz bestimmt;
er sei so sehr Muster, daß der Werth neuerer Oden sich schlechterdings nur nach der
Frage entscheide, ob Horaz die vorliegende Materie so ausgeführt haben würde.

Herder: Ich verehre den Horaz; aber aus Liebe zu meiner Persönlichkeit
wünschte ich oft ihn nicht zu kennen. An die Stelle der gekünstelter, steifen,
nur zu prunkender Declamation geeigneten Ode will er das einfache, schlichte,
von echt nationaler Empfindung getragene, gesungene Lied gesetzt wissen,
dessen Eigenschaften oben nach feiner Darstellung beschrieben wurden.

Was die Gleimsche Romanze anbetrifft, so beklagt er tief, daß diese einst
'so edle und feierliche Dichtungsart zu nichts als zum Niedrigkomischen und
Abenteuerlichen gemißbraucht werde. In ihrer ursprünglichen Form könnte
sie, wie alle echten und reinen Natur- und Volksgesänge, so sehr dazu bei¬
tragen, unsere Lyrik zu „vereinfältigen" und uns von manchem drückenden
Schmuck befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden ist. In ihrer alten
Gestalt war sie den von Perry gesammelten Balladen ähnlich; an ihnen mag
man ihre Weise sich vorstellig machen, oder besser, diese Weise möge man in's
Ohr klingen und in echt deutschen Liedern neu ertönen lassen.

Ueberhaupt forderte er, man solle die frischen, Waldesgeruch anstatt Stu¬
benduft athmenden Gesänge aus allen Zonen und Zeiten sammeln; nament¬
lich im eigenen Lande auf ihr Tönen und Klingen, auf die Weisen der Lie¬
der achten, die das natürlich empfindende Volk singt. Was seine eigene
Sammlung unter allerlei Volk und Zeit ihm eingetragen, veröffentlichte er
1778 und 1779; erst 1806 ließen Clemens Brentano und sein Schwager Ar-
nim im „Wunderhorn", das sie Herder's Schüler, Goethe widmeten, die
„frische Luft altdeutschen Wandels" wehen.

Mit dergleichen Liedern und Romanzen wollte Herder freilich nicht neue
Muster zur Nachahmung hinstellen; er nannte sie „Materialien zur Dicht¬
kunst", nicht als sollte ihnen, wie Opitz sich einst ausgedrückt hatte, „der
richtige Griff" abgelernt, ihnen Form und Einkleidung nachgemacht werden,
als sollten sie nun wieder Gegenstände eines glossirenden Studiums, Vorlagen
zu neuen Exercitien sein; sondern das sinnige Dichtergemüth sollte auf Ton
und Weise, aus den melodischen Gang der Leidenschaft und Empfindung lau¬
schen, und ihn rein und voll in sich wiederklingen lassen.

Man belebe und erfrische an diesen würzigen, seelenvollen, rührenden
Gesängen die durch nüchternes Studium, durch die Convenienzen des Alltags¬
lebens matt, lahm und stumpf gewordene Seele, bade sie in diesem kühlen
Jungbrunnen wieder frisch und gesund: dann wird man endlich noch einmal
abkommen von dem Reflectiren, Cirkeln und Rechnen, endlich zu reiner und
ursprünglicher Poesie den Rückweg gewinnen, endlich wieder singen wie die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/555>, abgerufen am 24.07.2024.