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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Nachtigall und Lerche und wie die großen Natursänger aller Nationen, etwa
wie Homer und -- Ossian.

Von den damals vorhandenen und gepflegten lyrischen und lyrisch-epischen
Formen findet Herder außer den elf Kriegsliedern von Gleim - Tyrtäus,
die er um ihres "nationalen" Gehalts, ihres Bezuges auf die Gegenwart und
ihres preußischen Patriotismus willen schätzte, und bei denen auch er, wie
Lessing, das Gezwungene, Gemachte und Frostige übersah, nur die frei sich er¬
gießenden Klopstock'schen Hymnen nach Art der "Frühlingsfeier" weiterer
Pflege werth. Lessing hatte den Ausdruck "künstliche Prosa" für sie erfun¬
den. Herder, Fragmente I., 4: Ich wußte nicht, ob diese neue glückliche Vers¬
art nicht eher die natürlichste und ursprünglichste Poesie genannt
werden könnte. -- Dies Silbenmaß könnte uns vielleicht von vielem Uebel
erlösen und viel Bequemlichkeit bringen. Hätten wir einen dithyrambischen
Dichter, der wirklich von dem Blitzstrahle des Bacchus getroffen, trunken und
begeistert tönen würde -- natürlich wäre kein gefesseltes Silbenmaß für
ihn; er zerreißt es wie Simson die Bastseile, als Zwirnfäden. Allein diese
Verse sind pindarische Pfeile in der Hand des Starken. Dies Silbenmaß
kann sich wie ein Adler aufschwingen, es kann die Sprache durchgraben und
sich wieder ohne zu sinken schwimmend erhalten. Dies Silbenmaß, in dem
so viel Schatz von Sprache, Leidenschaft, Einbildungskraft und Musik liegt,
ist auch ein Muster der Declamation. Lies eine hinkende deutsche alcäische
Ode, deelamire sie gut, verbirg ihre Fehler, laß die Schönheiten des lebendigen
WolMangs hören -- es ist nicht mehr alcäische Ode, es ist eine Sprache,
in diese Verse zerstückt. Höre einen Redner in seinem Feuer brausen oder
zerschmelzen, du wirst einige Fußtapfen dieser Abschnitte in seiner Decla¬
mation hören: Höre einen Garrick in einem Selbstgespräche mit sich kämpfen,
fast unterliegen und dennoch siegen -- sein Affect wird die Sprache in alle
kleinen Theile ihrer Periode auflösen, -- "deren jeden man als einen einzel¬
nen Vers eines besonderen Silbenmaßes betrachten könnte," -- wie die Li¬
teraturbriefe von dieser Klopstock'schen freien Odenform gesagt hatten. Wie
wäre es nun, wenn dies Silbenmaß in den Oden die griechischen Verse und
in der Affectensprache die poetische Prosa etwas einschränkte? Wenn ein
Dithyrambendichter, ein Pindar unter uns in diesem Feierkleide sich sehen
ließe? Wenn ein deutscher Shakespeare -- der Kunstrichter schreibt vor:
Genies, ihr müßt die Regeln durch euer Exempel gültig machen! -- --

(Fortsetzung folgt.)




Nachtigall und Lerche und wie die großen Natursänger aller Nationen, etwa
wie Homer und — Ossian.

Von den damals vorhandenen und gepflegten lyrischen und lyrisch-epischen
Formen findet Herder außer den elf Kriegsliedern von Gleim - Tyrtäus,
die er um ihres „nationalen" Gehalts, ihres Bezuges auf die Gegenwart und
ihres preußischen Patriotismus willen schätzte, und bei denen auch er, wie
Lessing, das Gezwungene, Gemachte und Frostige übersah, nur die frei sich er¬
gießenden Klopstock'schen Hymnen nach Art der „Frühlingsfeier" weiterer
Pflege werth. Lessing hatte den Ausdruck „künstliche Prosa" für sie erfun¬
den. Herder, Fragmente I., 4: Ich wußte nicht, ob diese neue glückliche Vers¬
art nicht eher die natürlichste und ursprünglichste Poesie genannt
werden könnte. — Dies Silbenmaß könnte uns vielleicht von vielem Uebel
erlösen und viel Bequemlichkeit bringen. Hätten wir einen dithyrambischen
Dichter, der wirklich von dem Blitzstrahle des Bacchus getroffen, trunken und
begeistert tönen würde — natürlich wäre kein gefesseltes Silbenmaß für
ihn; er zerreißt es wie Simson die Bastseile, als Zwirnfäden. Allein diese
Verse sind pindarische Pfeile in der Hand des Starken. Dies Silbenmaß
kann sich wie ein Adler aufschwingen, es kann die Sprache durchgraben und
sich wieder ohne zu sinken schwimmend erhalten. Dies Silbenmaß, in dem
so viel Schatz von Sprache, Leidenschaft, Einbildungskraft und Musik liegt,
ist auch ein Muster der Declamation. Lies eine hinkende deutsche alcäische
Ode, deelamire sie gut, verbirg ihre Fehler, laß die Schönheiten des lebendigen
WolMangs hören — es ist nicht mehr alcäische Ode, es ist eine Sprache,
in diese Verse zerstückt. Höre einen Redner in seinem Feuer brausen oder
zerschmelzen, du wirst einige Fußtapfen dieser Abschnitte in seiner Decla¬
mation hören: Höre einen Garrick in einem Selbstgespräche mit sich kämpfen,
fast unterliegen und dennoch siegen — sein Affect wird die Sprache in alle
kleinen Theile ihrer Periode auflösen, — „deren jeden man als einen einzel¬
nen Vers eines besonderen Silbenmaßes betrachten könnte," — wie die Li¬
teraturbriefe von dieser Klopstock'schen freien Odenform gesagt hatten. Wie
wäre es nun, wenn dies Silbenmaß in den Oden die griechischen Verse und
in der Affectensprache die poetische Prosa etwas einschränkte? Wenn ein
Dithyrambendichter, ein Pindar unter uns in diesem Feierkleide sich sehen
ließe? Wenn ein deutscher Shakespeare — der Kunstrichter schreibt vor:
Genies, ihr müßt die Regeln durch euer Exempel gültig machen! — —

(Fortsetzung folgt.)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/556>, abgerufen am 24.07.2024.