Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und
stärker selbst sagte. Er schreibt für die papierene Ewigkeit, da der vorige
Sänger nur für den jetzigen Augenblick sang, aber eine Wirkung machte,
daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin
vertraten.

Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten; und wissenschaftliche Reimer
beschließen die Zahl. Nirgends natürliches, individuelles Gefühl; überall
kalter Zwang, fremde Affecte. Man dichtet über Gegenstände, über die sich
nichts sinnen und imaginiren läßt; man cirkelt und stoppelt nach Regeln zu¬
sammen; man erkünstelt Leidenschaften, die man nicht hat; nirgends Wahr¬
heit und andringende Kraft. Alles falsch und schwach, lahm und wankend.
Die Erzeugnisse der Dichtkunst, der stürmendsten Tochter der menschlichen
Seele, sind wie corrigirte Knaben- und Schulerercitia,

Wir mögen nicht lassen von der unglückseligen " Classicität". Man
hat sich in die wiedergefundenen Alten so verliebt, daß man sie, wie man
nur kann, nachahmt und sich nun überredet, classisch zu schreiben. Freilich
kann man sich weder selbst flugs in einen Griechen und Römer verwandeln,
noch die ganze Welt um sich griechisch und römisch machen; aber das schadet
nichts: es ist doch eine so schöne Sprache, es sind so schöne Muster; man
versifizirt römisch, wenn auch das Volk nichts davon versteht. Gelehrte schrei¬
ben für Gelehrte; ein Schreiber klatscht dem andern zu: Du bist classisch, ich
bin's auch! jene, das Volk, sind Barbaren, Pöbel der lieben Frau Mutter¬
sprache, sie sind verflucht.

Was ist es denn für ein Ruhm, wenn es heißt: dieser Dichter singt wie
Horaz, dieser philosophische Dichter ist ein anderer Lucrez? Alle echte Poesie
ist nicht nachgeahmte, sondern ursprüngliche, nationale Poesie. Die Bestre¬
bungen für Sprache und Dichtkunst sind aber bei uns Heuer gerade so, als
hätte man sich zum Zweck gesetzt, "die letzten Züge vom Nationalgeist aus¬
zurotten"; bald werden wir alle "classisch" gebildet dastehn, französische
Lieder singen, wie wir französische Menuets tanzen; -- oder gar allesammt
Hexameter und Horazische Oden schreiben. -- Wehe dem, der sich auf der
Höhe unserer "classisch" vollendeten Literatur noch um's Volk kümmern wollte!
um ihre Märchen und Lieder I um ihre müde Sprache! Er käme wie eine
Nachteule unter Paradiesvögel; sie sind so artig, so schön, so buntgefiedert,
ganz Flug, ganz Höhe! -- aber ohne Fuß auf deutscher Erde. --"

Besonders ist sein Haß gegen die Horazische Ode und die travestirende,
ironische Bänkelsängerromanze gerichtet.

Warum dem Horaz nachahmen? Man kann sich nicht genug wehren
gegen die Zumuthung, fremdartige Nationalformen oder gar gelehrte Ueber-
einkommnisse über Producte eines Erdenwinkels für Gesetze Gottes und der


ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und
stärker selbst sagte. Er schreibt für die papierene Ewigkeit, da der vorige
Sänger nur für den jetzigen Augenblick sang, aber eine Wirkung machte,
daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin
vertraten.

Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten; und wissenschaftliche Reimer
beschließen die Zahl. Nirgends natürliches, individuelles Gefühl; überall
kalter Zwang, fremde Affecte. Man dichtet über Gegenstände, über die sich
nichts sinnen und imaginiren läßt; man cirkelt und stoppelt nach Regeln zu¬
sammen; man erkünstelt Leidenschaften, die man nicht hat; nirgends Wahr¬
heit und andringende Kraft. Alles falsch und schwach, lahm und wankend.
Die Erzeugnisse der Dichtkunst, der stürmendsten Tochter der menschlichen
Seele, sind wie corrigirte Knaben- und Schulerercitia,

Wir mögen nicht lassen von der unglückseligen „ Classicität". Man
hat sich in die wiedergefundenen Alten so verliebt, daß man sie, wie man
nur kann, nachahmt und sich nun überredet, classisch zu schreiben. Freilich
kann man sich weder selbst flugs in einen Griechen und Römer verwandeln,
noch die ganze Welt um sich griechisch und römisch machen; aber das schadet
nichts: es ist doch eine so schöne Sprache, es sind so schöne Muster; man
versifizirt römisch, wenn auch das Volk nichts davon versteht. Gelehrte schrei¬
ben für Gelehrte; ein Schreiber klatscht dem andern zu: Du bist classisch, ich
bin's auch! jene, das Volk, sind Barbaren, Pöbel der lieben Frau Mutter¬
sprache, sie sind verflucht.

Was ist es denn für ein Ruhm, wenn es heißt: dieser Dichter singt wie
Horaz, dieser philosophische Dichter ist ein anderer Lucrez? Alle echte Poesie
ist nicht nachgeahmte, sondern ursprüngliche, nationale Poesie. Die Bestre¬
bungen für Sprache und Dichtkunst sind aber bei uns Heuer gerade so, als
hätte man sich zum Zweck gesetzt, „die letzten Züge vom Nationalgeist aus¬
zurotten"; bald werden wir alle „classisch" gebildet dastehn, französische
Lieder singen, wie wir französische Menuets tanzen; — oder gar allesammt
Hexameter und Horazische Oden schreiben. — Wehe dem, der sich auf der
Höhe unserer „classisch" vollendeten Literatur noch um's Volk kümmern wollte!
um ihre Märchen und Lieder I um ihre müde Sprache! Er käme wie eine
Nachteule unter Paradiesvögel; sie sind so artig, so schön, so buntgefiedert,
ganz Flug, ganz Höhe! — aber ohne Fuß auf deutscher Erde. —"

Besonders ist sein Haß gegen die Horazische Ode und die travestirende,
ironische Bänkelsängerromanze gerichtet.

Warum dem Horaz nachahmen? Man kann sich nicht genug wehren
gegen die Zumuthung, fremdartige Nationalformen oder gar gelehrte Ueber-
einkommnisse über Producte eines Erdenwinkels für Gesetze Gottes und der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0554" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126830"/>
          <p xml:id="ID_1680" prev="#ID_1679"> ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und<lb/>
stärker selbst sagte. Er schreibt für die papierene Ewigkeit, da der vorige<lb/>
Sänger nur für den jetzigen Augenblick sang, aber eine Wirkung machte,<lb/>
daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin<lb/>
vertraten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1681"> Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten; und wissenschaftliche Reimer<lb/>
beschließen die Zahl. Nirgends natürliches, individuelles Gefühl; überall<lb/>
kalter Zwang, fremde Affecte. Man dichtet über Gegenstände, über die sich<lb/>
nichts sinnen und imaginiren läßt; man cirkelt und stoppelt nach Regeln zu¬<lb/>
sammen; man erkünstelt Leidenschaften, die man nicht hat; nirgends Wahr¬<lb/>
heit und andringende Kraft. Alles falsch und schwach, lahm und wankend.<lb/>
Die Erzeugnisse der Dichtkunst, der stürmendsten Tochter der menschlichen<lb/>
Seele, sind wie corrigirte Knaben- und Schulerercitia,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1682"> Wir mögen nicht lassen von der unglückseligen &#x201E; Classicität". Man<lb/>
hat sich in die wiedergefundenen Alten so verliebt, daß man sie, wie man<lb/>
nur kann, nachahmt und sich nun überredet, classisch zu schreiben. Freilich<lb/>
kann man sich weder selbst flugs in einen Griechen und Römer verwandeln,<lb/>
noch die ganze Welt um sich griechisch und römisch machen; aber das schadet<lb/>
nichts: es ist doch eine so schöne Sprache, es sind so schöne Muster; man<lb/>
versifizirt römisch, wenn auch das Volk nichts davon versteht. Gelehrte schrei¬<lb/>
ben für Gelehrte; ein Schreiber klatscht dem andern zu: Du bist classisch, ich<lb/>
bin's auch! jene, das Volk, sind Barbaren, Pöbel der lieben Frau Mutter¬<lb/>
sprache, sie sind verflucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1683"> Was ist es denn für ein Ruhm, wenn es heißt: dieser Dichter singt wie<lb/>
Horaz, dieser philosophische Dichter ist ein anderer Lucrez? Alle echte Poesie<lb/>
ist nicht nachgeahmte, sondern ursprüngliche, nationale Poesie. Die Bestre¬<lb/>
bungen für Sprache und Dichtkunst sind aber bei uns Heuer gerade so, als<lb/>
hätte man sich zum Zweck gesetzt, &#x201E;die letzten Züge vom Nationalgeist aus¬<lb/>
zurotten"; bald werden wir alle &#x201E;classisch" gebildet dastehn, französische<lb/>
Lieder singen, wie wir französische Menuets tanzen; &#x2014; oder gar allesammt<lb/>
Hexameter und Horazische Oden schreiben. &#x2014; Wehe dem, der sich auf der<lb/>
Höhe unserer &#x201E;classisch" vollendeten Literatur noch um's Volk kümmern wollte!<lb/>
um ihre Märchen und Lieder I um ihre müde Sprache! Er käme wie eine<lb/>
Nachteule unter Paradiesvögel; sie sind so artig, so schön, so buntgefiedert,<lb/>
ganz Flug, ganz Höhe! &#x2014; aber ohne Fuß auf deutscher Erde. &#x2014;"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1684"> Besonders ist sein Haß gegen die Horazische Ode und die travestirende,<lb/>
ironische Bänkelsängerromanze gerichtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1685" next="#ID_1686"> Warum dem Horaz nachahmen? Man kann sich nicht genug wehren<lb/>
gegen die Zumuthung, fremdartige Nationalformen oder gar gelehrte Ueber-<lb/>
einkommnisse über Producte eines Erdenwinkels für Gesetze Gottes und der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0554] ausfüllen, was voraus die lebendige Stimme tausendmal vielfacher, besser und stärker selbst sagte. Er schreibt für die papierene Ewigkeit, da der vorige Sänger nur für den jetzigen Augenblick sang, aber eine Wirkung machte, daß Herz und Gedächtniß die Stelle der Bücherkammer auf Jahrhunderte hin vertraten. Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten; und wissenschaftliche Reimer beschließen die Zahl. Nirgends natürliches, individuelles Gefühl; überall kalter Zwang, fremde Affecte. Man dichtet über Gegenstände, über die sich nichts sinnen und imaginiren läßt; man cirkelt und stoppelt nach Regeln zu¬ sammen; man erkünstelt Leidenschaften, die man nicht hat; nirgends Wahr¬ heit und andringende Kraft. Alles falsch und schwach, lahm und wankend. Die Erzeugnisse der Dichtkunst, der stürmendsten Tochter der menschlichen Seele, sind wie corrigirte Knaben- und Schulerercitia, Wir mögen nicht lassen von der unglückseligen „ Classicität". Man hat sich in die wiedergefundenen Alten so verliebt, daß man sie, wie man nur kann, nachahmt und sich nun überredet, classisch zu schreiben. Freilich kann man sich weder selbst flugs in einen Griechen und Römer verwandeln, noch die ganze Welt um sich griechisch und römisch machen; aber das schadet nichts: es ist doch eine so schöne Sprache, es sind so schöne Muster; man versifizirt römisch, wenn auch das Volk nichts davon versteht. Gelehrte schrei¬ ben für Gelehrte; ein Schreiber klatscht dem andern zu: Du bist classisch, ich bin's auch! jene, das Volk, sind Barbaren, Pöbel der lieben Frau Mutter¬ sprache, sie sind verflucht. Was ist es denn für ein Ruhm, wenn es heißt: dieser Dichter singt wie Horaz, dieser philosophische Dichter ist ein anderer Lucrez? Alle echte Poesie ist nicht nachgeahmte, sondern ursprüngliche, nationale Poesie. Die Bestre¬ bungen für Sprache und Dichtkunst sind aber bei uns Heuer gerade so, als hätte man sich zum Zweck gesetzt, „die letzten Züge vom Nationalgeist aus¬ zurotten"; bald werden wir alle „classisch" gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie wir französische Menuets tanzen; — oder gar allesammt Hexameter und Horazische Oden schreiben. — Wehe dem, der sich auf der Höhe unserer „classisch" vollendeten Literatur noch um's Volk kümmern wollte! um ihre Märchen und Lieder I um ihre müde Sprache! Er käme wie eine Nachteule unter Paradiesvögel; sie sind so artig, so schön, so buntgefiedert, ganz Flug, ganz Höhe! — aber ohne Fuß auf deutscher Erde. —" Besonders ist sein Haß gegen die Horazische Ode und die travestirende, ironische Bänkelsängerromanze gerichtet. Warum dem Horaz nachahmen? Man kann sich nicht genug wehren gegen die Zumuthung, fremdartige Nationalformen oder gar gelehrte Ueber- einkommnisse über Producte eines Erdenwinkels für Gesetze Gottes und der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/554
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/554>, abgerufen am 24.07.2024.