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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Körpers, mit Tanz im Feuer des furchtbaren Augenblicks ergreifend und
entzückend herausgesungen. Alle solche Lieder sind kräftig, fest und wirksam,
voll Ursprünglichkeit, Wahrheit und sinnlicher Gegenwart. Alles webt um
wirkliche, daseiende, das Gemüth lebhaft rührende Gegenstände. Nicht durch
moralische Rücksichten, nicht durch Vers- und Sprachregel gehemmt, in seliger
Unwissenheit über all die Schwächungen des Geistes, unter denen ein "gebil¬
detes", "gelehrtes" Zeitalter erlahmt, folgt der Sänger den unaufhaltsamen
Bewegungen seiner naturfrischen Phantasie.

Alle solche Gedichte sind voll von Inversionen, Sprüngen, Ellipsen und
all den Unregelmäßigkeiten, die unsere Regelnschmiede verurtheilen, und die
doch in Wahrheit die echten Zeichen einer ungeschwächten Seele sind.

Das Wesen und die Hauptkraft solcher naiven, volksmäßigen Lieder liegt
im Musikalischen, in der "Weise", in Klang und Ton, Melodie und
Rhythmus, in der ganz eigenen Harmonie der Laute, der Färbung und dem
gegenseitigen Verhältniß der Vocale und Consonanten, in der Stellung der
Worte und des Reims und in all dem Dunkeln und Unnennbaren, das mit
dem Gesang stromweise in unsere Seele zieht. Alle künstliche Zusammen¬
setzung und Niedlichkeit der malerischen Farben kann das Fehlen der
"Weise" nicht ersetzen. Ja, der Inhalt kann überhaupt mangelhaft sein;
er verliert sich, die schlechten Strophen werden nicht mehr mitgesungen, durch
bessere ersetzt, wenn nur die Weise zum Herzen spricht, wenn nur diese Seele,
dieser Geist des Gedichtes gesund ist.

In solchen kindlich frischen Gesängen pulsirt rein und echt das eigen¬
thümliche Herzblut der Nation. Sie sind der Fremde nicht entlehnt. Sie
sind die treusten und redendsten Abdrücke des nationalen Geistes; sie sind
Blumen der Eigenart des Volkes, feiner Sprache, feines Landes, seiner Ge¬
schäfte und Leidenschaften, seiner Musik und Seele. Hier liegt der Schatz seiner
Religion und Geschichte; hier ist das Bild seines Lebens, seiner Freude und
seines Leids.

Ganz das Gegentheil von dieser natürlichen, aus dem Leben des Volks
gesetzmäßig und von innen herausgewachsenen, naiven Poesie ist unsere heutige
" Letternpoesie."

Die Buchdruckerei hat vieles Gute gestiftet; der Dichtung hat sie ge¬
schadet. Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur Harfe; von
Stimme, Muth und Herz des Sängers belebt; jetzt stehen sie da, schwarz auf
weiß, schön gedruckt auf Blätter von Lumpen. Gleich viel zu welcher Zeit
einem lieben geneigten Leser nun der Wisch kommt, er wird gelesen, über¬
flogen, überträumelt. Voraus tönte der Dichter lebendige Accente ins Herz;
jetzt muß er suchen, schön und verständlich für unbekannte Leser zu schreiben;
Kommata und Punkte, Reim und Periode müssen fein ersetzen, bestimmen und


GrcnMcn U. 1871. 69

Körpers, mit Tanz im Feuer des furchtbaren Augenblicks ergreifend und
entzückend herausgesungen. Alle solche Lieder sind kräftig, fest und wirksam,
voll Ursprünglichkeit, Wahrheit und sinnlicher Gegenwart. Alles webt um
wirkliche, daseiende, das Gemüth lebhaft rührende Gegenstände. Nicht durch
moralische Rücksichten, nicht durch Vers- und Sprachregel gehemmt, in seliger
Unwissenheit über all die Schwächungen des Geistes, unter denen ein „gebil¬
detes", „gelehrtes" Zeitalter erlahmt, folgt der Sänger den unaufhaltsamen
Bewegungen seiner naturfrischen Phantasie.

Alle solche Gedichte sind voll von Inversionen, Sprüngen, Ellipsen und
all den Unregelmäßigkeiten, die unsere Regelnschmiede verurtheilen, und die
doch in Wahrheit die echten Zeichen einer ungeschwächten Seele sind.

Das Wesen und die Hauptkraft solcher naiven, volksmäßigen Lieder liegt
im Musikalischen, in der „Weise", in Klang und Ton, Melodie und
Rhythmus, in der ganz eigenen Harmonie der Laute, der Färbung und dem
gegenseitigen Verhältniß der Vocale und Consonanten, in der Stellung der
Worte und des Reims und in all dem Dunkeln und Unnennbaren, das mit
dem Gesang stromweise in unsere Seele zieht. Alle künstliche Zusammen¬
setzung und Niedlichkeit der malerischen Farben kann das Fehlen der
„Weise" nicht ersetzen. Ja, der Inhalt kann überhaupt mangelhaft sein;
er verliert sich, die schlechten Strophen werden nicht mehr mitgesungen, durch
bessere ersetzt, wenn nur die Weise zum Herzen spricht, wenn nur diese Seele,
dieser Geist des Gedichtes gesund ist.

In solchen kindlich frischen Gesängen pulsirt rein und echt das eigen¬
thümliche Herzblut der Nation. Sie sind der Fremde nicht entlehnt. Sie
sind die treusten und redendsten Abdrücke des nationalen Geistes; sie sind
Blumen der Eigenart des Volkes, feiner Sprache, feines Landes, seiner Ge¬
schäfte und Leidenschaften, seiner Musik und Seele. Hier liegt der Schatz seiner
Religion und Geschichte; hier ist das Bild seines Lebens, seiner Freude und
seines Leids.

Ganz das Gegentheil von dieser natürlichen, aus dem Leben des Volks
gesetzmäßig und von innen herausgewachsenen, naiven Poesie ist unsere heutige
„ Letternpoesie."

Die Buchdruckerei hat vieles Gute gestiftet; der Dichtung hat sie ge¬
schadet. Einst tönten die Gedichte im lebendigen Kreise, zur Harfe; von
Stimme, Muth und Herz des Sängers belebt; jetzt stehen sie da, schwarz auf
weiß, schön gedruckt auf Blätter von Lumpen. Gleich viel zu welcher Zeit
einem lieben geneigten Leser nun der Wisch kommt, er wird gelesen, über¬
flogen, überträumelt. Voraus tönte der Dichter lebendige Accente ins Herz;
jetzt muß er suchen, schön und verständlich für unbekannte Leser zu schreiben;
Kommata und Punkte, Reim und Periode müssen fein ersetzen, bestimmen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/553>, abgerufen am 24.07.2024.