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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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sah zur Malerei in der fortschreitenden Bewegung, in der Handlung gefunden;
für Herder liegt die Hauptabsicht der Poesie wegen der Verwandtschaft mit
der Musik in der Stimmung, in der Empfindung, die das Gedicht "wie
eine Weltseele" durchströmt. Lessing richtete seine Hauptaufmerksamkeit auf
die großen Gattungen, die ein Volk erst auf der Höhe seiner poetischen Ent¬
wicklung pflegt und ausbildet, die gar nicht denkbar sind, ohne einen nach
Plan und Absicht, mit Bewußtsein wirkenden Kunstverstand, der die
Motive sicher führt und ausgestaltet, der die Massen fest und klar beherrscht,
die Handlung natürlich und folgerichtig steigert, und den Knoten nach Wahr¬
scheinlichkeit Schürze und löst, auf Epos und Drama. Den musikalischen Herder in-
teressirt vorzüglich das einfache Volkslied; und anstatt des Epos das impro-
visirte stimmungsvolle epische Lied, das er, Nationen und Zeiten keck durch¬
einander mengend, ganz allgemein "Romanze" nannte. Die altenglischen
Balladen, welche Perry jüngst gesammelt, und die die Neue Bibliothek der
schönen Wissenschaften 1766 besprochen hatte, werden gleichfalls mit diesem
castilianischen Namen belegt.

Ein Zweites ist dies: Lessing hing noch an der Vorstellung, als ließe
sich durch kritisches Studium, durch Lectüre von Mustern, durch Befolgung
von Regeln Poesie erlernen. Er selbst hatte sich vielfach "an fremdem
Feuer erwärmt". Alle Poesie, die auf solche Weise wird, ist Herder ein Dorn
im Auge. Naturpoesie! Volkspoesie! fordert er in leidenschaftlich erregter
Rede wieder und immer wieder, auch hier völlige Emancipation von Mustern
und Normen.

Homer war von Pope, der Datier und Gottsched und auch vielfach von
Lessing wie ein grübelnder, seines Thuns sich auf Schritt und Tritt be¬
wußter, nach Regeln und Vorbildern dichtender, schreibender Stubenpoet be¬
handelt. Herder: Er darf auf keine Weise mit Virgil und Tasso verwechselt
werden. Er dichtete keine künstlich componirter Epopoeen nach vorgeschrie¬
benen Versschema. Er setzte sich nicht aus Sammet nieder, um Heldengedichte
in zweimal vierundzwanzig Gesängen nach Aristotelischer Regel zu schreiben.
Er sang, was er gehöret, stellte dar, was er gesehen und lebendig erfaßt
hatte; sein Hexameter war nichts als hergebrachte, in seinem Ohr lebendig
gegenwärtige Sangesweise der griechischen "Romanze"; seine Gesänge blieben
nicht in Buchläden und auf Lumpenpapier, sondern in Ohr und Herzen füh¬
lender Sänger und Hörer, bis sie zusammengestellt und niedergeschrieben wur¬
den und zuletzt mit Glossen und Vorurtheilen zu uns kamen.

Aehnlich sind die Gesänge aller naturwüchsigen, noch nicht von der Civi¬
lisation, von gesellschaftlichen Ceremoniell und gelehrtem Bücherstudium ver¬
wirrten und entnervten Nationen entstanden. Alles wird in freiem Wurf
sinnlich und lebendig für's Ohr gedichtet, mit lebhafter Action des ganzen


sah zur Malerei in der fortschreitenden Bewegung, in der Handlung gefunden;
für Herder liegt die Hauptabsicht der Poesie wegen der Verwandtschaft mit
der Musik in der Stimmung, in der Empfindung, die das Gedicht „wie
eine Weltseele" durchströmt. Lessing richtete seine Hauptaufmerksamkeit auf
die großen Gattungen, die ein Volk erst auf der Höhe seiner poetischen Ent¬
wicklung pflegt und ausbildet, die gar nicht denkbar sind, ohne einen nach
Plan und Absicht, mit Bewußtsein wirkenden Kunstverstand, der die
Motive sicher führt und ausgestaltet, der die Massen fest und klar beherrscht,
die Handlung natürlich und folgerichtig steigert, und den Knoten nach Wahr¬
scheinlichkeit Schürze und löst, auf Epos und Drama. Den musikalischen Herder in-
teressirt vorzüglich das einfache Volkslied; und anstatt des Epos das impro-
visirte stimmungsvolle epische Lied, das er, Nationen und Zeiten keck durch¬
einander mengend, ganz allgemein „Romanze" nannte. Die altenglischen
Balladen, welche Perry jüngst gesammelt, und die die Neue Bibliothek der
schönen Wissenschaften 1766 besprochen hatte, werden gleichfalls mit diesem
castilianischen Namen belegt.

Ein Zweites ist dies: Lessing hing noch an der Vorstellung, als ließe
sich durch kritisches Studium, durch Lectüre von Mustern, durch Befolgung
von Regeln Poesie erlernen. Er selbst hatte sich vielfach „an fremdem
Feuer erwärmt". Alle Poesie, die auf solche Weise wird, ist Herder ein Dorn
im Auge. Naturpoesie! Volkspoesie! fordert er in leidenschaftlich erregter
Rede wieder und immer wieder, auch hier völlige Emancipation von Mustern
und Normen.

Homer war von Pope, der Datier und Gottsched und auch vielfach von
Lessing wie ein grübelnder, seines Thuns sich auf Schritt und Tritt be¬
wußter, nach Regeln und Vorbildern dichtender, schreibender Stubenpoet be¬
handelt. Herder: Er darf auf keine Weise mit Virgil und Tasso verwechselt
werden. Er dichtete keine künstlich componirter Epopoeen nach vorgeschrie¬
benen Versschema. Er setzte sich nicht aus Sammet nieder, um Heldengedichte
in zweimal vierundzwanzig Gesängen nach Aristotelischer Regel zu schreiben.
Er sang, was er gehöret, stellte dar, was er gesehen und lebendig erfaßt
hatte; sein Hexameter war nichts als hergebrachte, in seinem Ohr lebendig
gegenwärtige Sangesweise der griechischen „Romanze"; seine Gesänge blieben
nicht in Buchläden und auf Lumpenpapier, sondern in Ohr und Herzen füh¬
lender Sänger und Hörer, bis sie zusammengestellt und niedergeschrieben wur¬
den und zuletzt mit Glossen und Vorurtheilen zu uns kamen.

Aehnlich sind die Gesänge aller naturwüchsigen, noch nicht von der Civi¬
lisation, von gesellschaftlichen Ceremoniell und gelehrtem Bücherstudium ver¬
wirrten und entnervten Nationen entstanden. Alles wird in freiem Wurf
sinnlich und lebendig für's Ohr gedichtet, mit lebhafter Action des ganzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/552>, abgerufen am 24.07.2024.