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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Klopstock. Sie wirken durch ihr "königliches Beispiel" mehr als 100 Gram¬
matiker. Unsere Sprache muß zunächst der treue und wahre Abdruck unseres
Landes und unserer Geschichte sein; ganz eigenartig, in vielen Stücken völlig
unübersetzbar, organisches Product des Volkscharakters; -- "ob wir classisch
sind, mag die Nachwelt entscheiden."

Wie mußten diese Lehren auf Goethe wirken, der in Leipzig unter dem
Bann des Meißenschen Dialekts geseufzt hatte, der nun schon seit einem hal¬
ben Jahre mit Widerstreben die Tyrannei der französischen Sprachregeln er¬
trug. Dort sollte er seine Frankfurter Provinzialismen, hier sein buntschecki¬
ges , von Bedienten, Schauspielern und Kanzelrednern und aus alterthümlichen
Schriften zusammengerafftes Französisch einer strengen uniformirenden Norm
unterwerfen, in Wortwahl, Structur und Aussprache Freiheit und Laune lä¬
stigen Gesetze opfern. Wie dankbar mußte erber neuen Theorie sein, die auf
methodische Weise seinem blinden Widerwillen Berechtigung verlieh.

Das Französisch wurde ihm durch Herder ganz verleidet. Nun ward
deutsch und nur deutsch gesprochen -- und gedichtet: und ohne Rücksicht auf
Gottschedische Sprachmeisterei, ganz "idiotistisch". Die Lyrik der 70er Jahre
mußte davon Zeugniß geben.

Auch von metrischen Regeln erlöste ihn Herder. Er warf das ganze
künstliche Gebäude, das Opitz einst aufgeführt hatte, an dem die Theoristen
seitdem weiter gebaut, mit einem Stoß über den Haufen. In die Zeit vor
Opitz, auf Weckherlin, ja auf Hans Sachs wurde zurückgegriffen. Wer wird
regelmäßig scandiren? Man zähle die Silben und declamire nach dem
Sinn! So erhält der Vers wieder "Physiognomie und Leben!" Dies ist die
Weise der phantasievollsten Nationen, der Spanier und Italiener. Nur bei
dieser freieren, die Form dem Inhalt unterordnenden Versbildung rettet und
bewahrt sich die deutsche Poesie den Reichthum ihrer schönen vielsilbigen und
zusammengesetzten Worte, die zerfetzt und zerschnitten oder zusammengedrängt
und aufgeopfert werden müssen, wenn "das Mühlengeklapper des jambischen
Rhythmus" Hauptgesetz bleibt.

Herder's allgemeine Ansichten über Natur und Wesen der
Poesie sind bekanntlich an Lessing's Laokoon angeknüpft.

Lessing hatte die Poesie von der Malerei geschieden. Herder sucht sie der
Musik zu nähern. Zwar wirkt die Poesie eigentlich zunächst nicht durch die
Töne selbst, sondern durch die Vorstellungen, die wir in der uns bekannten
Sprache auf Veranlassung gewisser artikulirter Laute in unserem Geiste erzeu¬
gen; aber diese Vorstellungen bilden eine ähnliche Reihe, wie in der Musik
die Tonfolge ist, die wir Melodie nennen. Auch in der Abwechselung, Folge
und Melodie der von der Poesie geweckten Phantasiebilder und Vorstellun¬
gen liegt eine Art Musik. Lessing hatte das Wesen aller Poesie im Gegen-


Klopstock. Sie wirken durch ihr „königliches Beispiel" mehr als 100 Gram¬
matiker. Unsere Sprache muß zunächst der treue und wahre Abdruck unseres
Landes und unserer Geschichte sein; ganz eigenartig, in vielen Stücken völlig
unübersetzbar, organisches Product des Volkscharakters; — „ob wir classisch
sind, mag die Nachwelt entscheiden."

Wie mußten diese Lehren auf Goethe wirken, der in Leipzig unter dem
Bann des Meißenschen Dialekts geseufzt hatte, der nun schon seit einem hal¬
ben Jahre mit Widerstreben die Tyrannei der französischen Sprachregeln er¬
trug. Dort sollte er seine Frankfurter Provinzialismen, hier sein buntschecki¬
ges , von Bedienten, Schauspielern und Kanzelrednern und aus alterthümlichen
Schriften zusammengerafftes Französisch einer strengen uniformirenden Norm
unterwerfen, in Wortwahl, Structur und Aussprache Freiheit und Laune lä¬
stigen Gesetze opfern. Wie dankbar mußte erber neuen Theorie sein, die auf
methodische Weise seinem blinden Widerwillen Berechtigung verlieh.

Das Französisch wurde ihm durch Herder ganz verleidet. Nun ward
deutsch und nur deutsch gesprochen — und gedichtet: und ohne Rücksicht auf
Gottschedische Sprachmeisterei, ganz „idiotistisch". Die Lyrik der 70er Jahre
mußte davon Zeugniß geben.

Auch von metrischen Regeln erlöste ihn Herder. Er warf das ganze
künstliche Gebäude, das Opitz einst aufgeführt hatte, an dem die Theoristen
seitdem weiter gebaut, mit einem Stoß über den Haufen. In die Zeit vor
Opitz, auf Weckherlin, ja auf Hans Sachs wurde zurückgegriffen. Wer wird
regelmäßig scandiren? Man zähle die Silben und declamire nach dem
Sinn! So erhält der Vers wieder „Physiognomie und Leben!" Dies ist die
Weise der phantasievollsten Nationen, der Spanier und Italiener. Nur bei
dieser freieren, die Form dem Inhalt unterordnenden Versbildung rettet und
bewahrt sich die deutsche Poesie den Reichthum ihrer schönen vielsilbigen und
zusammengesetzten Worte, die zerfetzt und zerschnitten oder zusammengedrängt
und aufgeopfert werden müssen, wenn „das Mühlengeklapper des jambischen
Rhythmus" Hauptgesetz bleibt.

Herder's allgemeine Ansichten über Natur und Wesen der
Poesie sind bekanntlich an Lessing's Laokoon angeknüpft.

Lessing hatte die Poesie von der Malerei geschieden. Herder sucht sie der
Musik zu nähern. Zwar wirkt die Poesie eigentlich zunächst nicht durch die
Töne selbst, sondern durch die Vorstellungen, die wir in der uns bekannten
Sprache auf Veranlassung gewisser artikulirter Laute in unserem Geiste erzeu¬
gen; aber diese Vorstellungen bilden eine ähnliche Reihe, wie in der Musik
die Tonfolge ist, die wir Melodie nennen. Auch in der Abwechselung, Folge
und Melodie der von der Poesie geweckten Phantasiebilder und Vorstellun¬
gen liegt eine Art Musik. Lessing hatte das Wesen aller Poesie im Gegen-


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[0551] Klopstock. Sie wirken durch ihr „königliches Beispiel" mehr als 100 Gram¬ matiker. Unsere Sprache muß zunächst der treue und wahre Abdruck unseres Landes und unserer Geschichte sein; ganz eigenartig, in vielen Stücken völlig unübersetzbar, organisches Product des Volkscharakters; — „ob wir classisch sind, mag die Nachwelt entscheiden." Wie mußten diese Lehren auf Goethe wirken, der in Leipzig unter dem Bann des Meißenschen Dialekts geseufzt hatte, der nun schon seit einem hal¬ ben Jahre mit Widerstreben die Tyrannei der französischen Sprachregeln er¬ trug. Dort sollte er seine Frankfurter Provinzialismen, hier sein buntschecki¬ ges , von Bedienten, Schauspielern und Kanzelrednern und aus alterthümlichen Schriften zusammengerafftes Französisch einer strengen uniformirenden Norm unterwerfen, in Wortwahl, Structur und Aussprache Freiheit und Laune lä¬ stigen Gesetze opfern. Wie dankbar mußte erber neuen Theorie sein, die auf methodische Weise seinem blinden Widerwillen Berechtigung verlieh. Das Französisch wurde ihm durch Herder ganz verleidet. Nun ward deutsch und nur deutsch gesprochen — und gedichtet: und ohne Rücksicht auf Gottschedische Sprachmeisterei, ganz „idiotistisch". Die Lyrik der 70er Jahre mußte davon Zeugniß geben. Auch von metrischen Regeln erlöste ihn Herder. Er warf das ganze künstliche Gebäude, das Opitz einst aufgeführt hatte, an dem die Theoristen seitdem weiter gebaut, mit einem Stoß über den Haufen. In die Zeit vor Opitz, auf Weckherlin, ja auf Hans Sachs wurde zurückgegriffen. Wer wird regelmäßig scandiren? Man zähle die Silben und declamire nach dem Sinn! So erhält der Vers wieder „Physiognomie und Leben!" Dies ist die Weise der phantasievollsten Nationen, der Spanier und Italiener. Nur bei dieser freieren, die Form dem Inhalt unterordnenden Versbildung rettet und bewahrt sich die deutsche Poesie den Reichthum ihrer schönen vielsilbigen und zusammengesetzten Worte, die zerfetzt und zerschnitten oder zusammengedrängt und aufgeopfert werden müssen, wenn „das Mühlengeklapper des jambischen Rhythmus" Hauptgesetz bleibt. Herder's allgemeine Ansichten über Natur und Wesen der Poesie sind bekanntlich an Lessing's Laokoon angeknüpft. Lessing hatte die Poesie von der Malerei geschieden. Herder sucht sie der Musik zu nähern. Zwar wirkt die Poesie eigentlich zunächst nicht durch die Töne selbst, sondern durch die Vorstellungen, die wir in der uns bekannten Sprache auf Veranlassung gewisser artikulirter Laute in unserem Geiste erzeu¬ gen; aber diese Vorstellungen bilden eine ähnliche Reihe, wie in der Musik die Tonfolge ist, die wir Melodie nennen. Auch in der Abwechselung, Folge und Melodie der von der Poesie geweckten Phantasiebilder und Vorstellun¬ gen liegt eine Art Musik. Lessing hatte das Wesen aller Poesie im Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/551>, abgerufen am 24.07.2024.