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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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herrschenden Grundstimmung des politischen Geistes der Franzosen ist der
Radicalismus aber erst durch die große Revolution und die dieselbe vorberei¬
tende geistige Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts geworden, da die der
Bewegung zu Grunde liegenden und von ihr immer schärfer entwickelten
und formulirten Anschauungen einerseits die ungemessensten Ansprüche an
die Leistungen des Staats stellten, andererseits aber die Fähigkeit des Staats
zur Erfüllung dieser Ansprüche von einer radicalen Umgestaltung desselben
abhängig machten.

In der Borgeschichte der Revolution lassen sich allerdings noch zwei
Richtungen unterscheiden, neben der revolutionär-radicalen eine reformatorische.
Ueber einen Punkt herrschte in Frankreich im Grunde nur eine Meinung: alle
Welt war darüber einverstanden, daß das alte Regime abgewirthschaftet sei,
und daß eine Fortdauer der herrschenden Zustände den Untergang des Staats
zur unvermeidlichen Folge haben müsse. Das regelmäßige Mittel in solcher
Frage ist die Beseitigung der vorhandenen Mißstände vermittelst des staat¬
lichen Organismus selbst, also eine Reform, geleitet durch die Macht, die
selbst der Reform vor Allem bedarf. Ernste und aufrichtige Versuche, auf
dem Wege der Reform einer Katastrophe vorzubeugen, gingen denn auch dem
Ausbruche der Revolution voran; aber sie scheiterten theils an den Umtrie¬
ben der eigennützigen oder beschränkten Gegner jeder Reform, theils an der
Größe des Uebels, theils an der Erregung der Geister, die sich nach und nach
in die Ueberzeugung eingelebt hatten, daß der Umsturz aller bestehenden staat¬
lichen Einrichtungen der Heilung der kranken Gesellschaft vorangehen müsse.
So wurden also von Anfang an die reformatorischen Tendenzen von der re¬
volutionären Stimmung durchkreuzt.

Ihre Erfolge hatte die geistige Umwälzung, welche sich im Laufe des
achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich vollzog, zum großen Theil dem Um¬
stände zu verdanken, daß sie ihre praktischen Tendenzen bald mit berechneter
Absichtlichkeit, bald instinctmäßig versteckte und längere Zeit hindurch einer
offenen Kritik der concreten Zustände auswich. Dieser Enthaltsamkeit ver¬
dankte die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, daß sie in den höchsten
Classen der Gesellschaft Eingang und gerade in den vornehmsten Salons die
eifrigsten Gönner und Beförderer fand. Sie predigte -- und eben dadurch
wurde sie die das Jahrhundert beherrschende Macht -- den Leuten von Welt;
radical demokratisch in ihrem Kern, war sie vornehm und raffinirt elegant in
ihrer Form. Ihre Wortführer beherrschten mit vollendeter Meisterschaft eine
classisch ausgebildete Sprache, die sich eben so wohl zum Werkzeug des lei¬
denschaftlichsten Pathos, wie der schärfsten Dialektik eignete. Der Zauber der
Form gewann selbst diejenigen, die sich sagen mußten, daß gegen sie beson¬
ders die Pfeile des Spottes und Witzes gerichtet waren; da sie aber als Got-


herrschenden Grundstimmung des politischen Geistes der Franzosen ist der
Radicalismus aber erst durch die große Revolution und die dieselbe vorberei¬
tende geistige Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts geworden, da die der
Bewegung zu Grunde liegenden und von ihr immer schärfer entwickelten
und formulirten Anschauungen einerseits die ungemessensten Ansprüche an
die Leistungen des Staats stellten, andererseits aber die Fähigkeit des Staats
zur Erfüllung dieser Ansprüche von einer radicalen Umgestaltung desselben
abhängig machten.

In der Borgeschichte der Revolution lassen sich allerdings noch zwei
Richtungen unterscheiden, neben der revolutionär-radicalen eine reformatorische.
Ueber einen Punkt herrschte in Frankreich im Grunde nur eine Meinung: alle
Welt war darüber einverstanden, daß das alte Regime abgewirthschaftet sei,
und daß eine Fortdauer der herrschenden Zustände den Untergang des Staats
zur unvermeidlichen Folge haben müsse. Das regelmäßige Mittel in solcher
Frage ist die Beseitigung der vorhandenen Mißstände vermittelst des staat¬
lichen Organismus selbst, also eine Reform, geleitet durch die Macht, die
selbst der Reform vor Allem bedarf. Ernste und aufrichtige Versuche, auf
dem Wege der Reform einer Katastrophe vorzubeugen, gingen denn auch dem
Ausbruche der Revolution voran; aber sie scheiterten theils an den Umtrie¬
ben der eigennützigen oder beschränkten Gegner jeder Reform, theils an der
Größe des Uebels, theils an der Erregung der Geister, die sich nach und nach
in die Ueberzeugung eingelebt hatten, daß der Umsturz aller bestehenden staat¬
lichen Einrichtungen der Heilung der kranken Gesellschaft vorangehen müsse.
So wurden also von Anfang an die reformatorischen Tendenzen von der re¬
volutionären Stimmung durchkreuzt.

Ihre Erfolge hatte die geistige Umwälzung, welche sich im Laufe des
achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich vollzog, zum großen Theil dem Um¬
stände zu verdanken, daß sie ihre praktischen Tendenzen bald mit berechneter
Absichtlichkeit, bald instinctmäßig versteckte und längere Zeit hindurch einer
offenen Kritik der concreten Zustände auswich. Dieser Enthaltsamkeit ver¬
dankte die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, daß sie in den höchsten
Classen der Gesellschaft Eingang und gerade in den vornehmsten Salons die
eifrigsten Gönner und Beförderer fand. Sie predigte — und eben dadurch
wurde sie die das Jahrhundert beherrschende Macht — den Leuten von Welt;
radical demokratisch in ihrem Kern, war sie vornehm und raffinirt elegant in
ihrer Form. Ihre Wortführer beherrschten mit vollendeter Meisterschaft eine
classisch ausgebildete Sprache, die sich eben so wohl zum Werkzeug des lei¬
denschaftlichsten Pathos, wie der schärfsten Dialektik eignete. Der Zauber der
Form gewann selbst diejenigen, die sich sagen mußten, daß gegen sie beson¬
ders die Pfeile des Spottes und Witzes gerichtet waren; da sie aber als Got-


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[0054] herrschenden Grundstimmung des politischen Geistes der Franzosen ist der Radicalismus aber erst durch die große Revolution und die dieselbe vorberei¬ tende geistige Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts geworden, da die der Bewegung zu Grunde liegenden und von ihr immer schärfer entwickelten und formulirten Anschauungen einerseits die ungemessensten Ansprüche an die Leistungen des Staats stellten, andererseits aber die Fähigkeit des Staats zur Erfüllung dieser Ansprüche von einer radicalen Umgestaltung desselben abhängig machten. In der Borgeschichte der Revolution lassen sich allerdings noch zwei Richtungen unterscheiden, neben der revolutionär-radicalen eine reformatorische. Ueber einen Punkt herrschte in Frankreich im Grunde nur eine Meinung: alle Welt war darüber einverstanden, daß das alte Regime abgewirthschaftet sei, und daß eine Fortdauer der herrschenden Zustände den Untergang des Staats zur unvermeidlichen Folge haben müsse. Das regelmäßige Mittel in solcher Frage ist die Beseitigung der vorhandenen Mißstände vermittelst des staat¬ lichen Organismus selbst, also eine Reform, geleitet durch die Macht, die selbst der Reform vor Allem bedarf. Ernste und aufrichtige Versuche, auf dem Wege der Reform einer Katastrophe vorzubeugen, gingen denn auch dem Ausbruche der Revolution voran; aber sie scheiterten theils an den Umtrie¬ ben der eigennützigen oder beschränkten Gegner jeder Reform, theils an der Größe des Uebels, theils an der Erregung der Geister, die sich nach und nach in die Ueberzeugung eingelebt hatten, daß der Umsturz aller bestehenden staat¬ lichen Einrichtungen der Heilung der kranken Gesellschaft vorangehen müsse. So wurden also von Anfang an die reformatorischen Tendenzen von der re¬ volutionären Stimmung durchkreuzt. Ihre Erfolge hatte die geistige Umwälzung, welche sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich vollzog, zum großen Theil dem Um¬ stände zu verdanken, daß sie ihre praktischen Tendenzen bald mit berechneter Absichtlichkeit, bald instinctmäßig versteckte und längere Zeit hindurch einer offenen Kritik der concreten Zustände auswich. Dieser Enthaltsamkeit ver¬ dankte die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, daß sie in den höchsten Classen der Gesellschaft Eingang und gerade in den vornehmsten Salons die eifrigsten Gönner und Beförderer fand. Sie predigte — und eben dadurch wurde sie die das Jahrhundert beherrschende Macht — den Leuten von Welt; radical demokratisch in ihrem Kern, war sie vornehm und raffinirt elegant in ihrer Form. Ihre Wortführer beherrschten mit vollendeter Meisterschaft eine classisch ausgebildete Sprache, die sich eben so wohl zum Werkzeug des lei¬ denschaftlichsten Pathos, wie der schärfsten Dialektik eignete. Der Zauber der Form gewann selbst diejenigen, die sich sagen mußten, daß gegen sie beson¬ ders die Pfeile des Spottes und Witzes gerichtet waren; da sie aber als Got-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/54>, abgerufen am 24.07.2024.