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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Land auf Seiten der Regierung stehe. Gelang dem Ministerium, einen
entschiedenen Erfolg bei den Wahlen zu erzielen, so war es immerhin in sei¬
nem Rechte, wenn es dem officiellen Ausdruck des Volkswillens ein höheres
Gewicht beimaß, als den Keulenschlägen der Pariser Presse und den Nadel¬
stichen des Salons. Die Negierung konnte sich, im Besitz der Kammermajo¬
rität, für die Vertreterin der wahren öffentlichen Meinung ansehen und ihre
Gegner, mochten dieselben sich auch auf die Sympathien fast des ganzen Lan¬
des stützen, vor dem xg-^s als Demagogen denunciren. die die Gemü¬
ther durch die Meinungsanarchie für die Revolution vorbereiten wollten.

Und diese Denuncation, dieser Appell an die besitzenden Classen, blieb
nicht immer ohne Wirkung. Denn in der That war ja selbst in äußerlich
ruhigen Zeiten die Revolution nicht ohne Grund das Schreckgespenst für die
Einen, der Hoffnungsanker der Anderen. Grade die Ueberlegenheit der Re¬
gierung im Wahlkampfe (daß die Einführung des allgemeinen Stimmrechts
den gouvernementalen Einfluß nicht verminderte, sondern noch steigerte, haben
die Wahlen während der Regierung Napoleons III. bewiesen) legte der Oppo¬
sition die Versuchung nahe, durch eine Bewegung der Pariser Bevölkerung
die Regierung außer Fassung zu bringen. Eine Emeute war leicht zu Stande
gebracht, wenn das gebildete Bürgerthum sich in frondirender Stimmung be¬
fand und der Negierung eine thatsächliche Lection gönnte. Nahmen die Un¬
ruhen einen bedrohlichen Charakter an, so schien immer noch Zeit, schnell
wieder conservativ zu werden, und sich unter die schützenden Flügel der Re¬
gierung zu begeben. Wied die durch die Mißstimmung des Bürgerthums
großgezogene Emeute vor den Drohungen und Repressivmaßregeln der Re¬
gierung nicht zurück, so stand man freilich vor dem Bürgerkrieg,
vor der Revolution, und dann mußte sich die bürgerliche Opposition
bequemen, in ihren Zugeständnissen an ihre Verbündeten von der ra-
dicalen Partei weit über das hinauszugehen, was sie selbst von der Negierung
gefordert hatte: so bereits 1830, wo die Mehrheit der parlamentarischen
Opposition mit einem Minister- und Systemwechsel und einer Zurücknahme
der berüchtigten Ordonnanzen sich würde haben zufrieden stellen lassen; so vor
allem 1848, wo die Häupter der dynastischen Linken, nachdem sie sich lange in
dem eitlen Wahne gewiegt hatten, daß die ganze Nation zu ihrer Verfü¬
gung stehe, die schreckliche Erfahrung machen mußten, daß sie nur ihrem
radicalen Bundesgenossen Handlangerdienste geleistet hatten.

Der gewohnheitsmäßige Leichtsinn, mit dem die oppositionellen Parteien
sich der Führung des äußersten Radicalismus hinzugeben pflegen, spielt eine
der bedeutungsvollsten Rollen in der Entwickelungsgeschichte Frankreichs. In
wie engem Zusammenhange diese Richtung auf den Radicalismus mit dem
traditionellen Centralisationsprincip steht, haben wir schon nachgewiesen. Zur


Land auf Seiten der Regierung stehe. Gelang dem Ministerium, einen
entschiedenen Erfolg bei den Wahlen zu erzielen, so war es immerhin in sei¬
nem Rechte, wenn es dem officiellen Ausdruck des Volkswillens ein höheres
Gewicht beimaß, als den Keulenschlägen der Pariser Presse und den Nadel¬
stichen des Salons. Die Negierung konnte sich, im Besitz der Kammermajo¬
rität, für die Vertreterin der wahren öffentlichen Meinung ansehen und ihre
Gegner, mochten dieselben sich auch auf die Sympathien fast des ganzen Lan¬
des stützen, vor dem xg-^s als Demagogen denunciren. die die Gemü¬
ther durch die Meinungsanarchie für die Revolution vorbereiten wollten.

Und diese Denuncation, dieser Appell an die besitzenden Classen, blieb
nicht immer ohne Wirkung. Denn in der That war ja selbst in äußerlich
ruhigen Zeiten die Revolution nicht ohne Grund das Schreckgespenst für die
Einen, der Hoffnungsanker der Anderen. Grade die Ueberlegenheit der Re¬
gierung im Wahlkampfe (daß die Einführung des allgemeinen Stimmrechts
den gouvernementalen Einfluß nicht verminderte, sondern noch steigerte, haben
die Wahlen während der Regierung Napoleons III. bewiesen) legte der Oppo¬
sition die Versuchung nahe, durch eine Bewegung der Pariser Bevölkerung
die Regierung außer Fassung zu bringen. Eine Emeute war leicht zu Stande
gebracht, wenn das gebildete Bürgerthum sich in frondirender Stimmung be¬
fand und der Negierung eine thatsächliche Lection gönnte. Nahmen die Un¬
ruhen einen bedrohlichen Charakter an, so schien immer noch Zeit, schnell
wieder conservativ zu werden, und sich unter die schützenden Flügel der Re¬
gierung zu begeben. Wied die durch die Mißstimmung des Bürgerthums
großgezogene Emeute vor den Drohungen und Repressivmaßregeln der Re¬
gierung nicht zurück, so stand man freilich vor dem Bürgerkrieg,
vor der Revolution, und dann mußte sich die bürgerliche Opposition
bequemen, in ihren Zugeständnissen an ihre Verbündeten von der ra-
dicalen Partei weit über das hinauszugehen, was sie selbst von der Negierung
gefordert hatte: so bereits 1830, wo die Mehrheit der parlamentarischen
Opposition mit einem Minister- und Systemwechsel und einer Zurücknahme
der berüchtigten Ordonnanzen sich würde haben zufrieden stellen lassen; so vor
allem 1848, wo die Häupter der dynastischen Linken, nachdem sie sich lange in
dem eitlen Wahne gewiegt hatten, daß die ganze Nation zu ihrer Verfü¬
gung stehe, die schreckliche Erfahrung machen mußten, daß sie nur ihrem
radicalen Bundesgenossen Handlangerdienste geleistet hatten.

Der gewohnheitsmäßige Leichtsinn, mit dem die oppositionellen Parteien
sich der Führung des äußersten Radicalismus hinzugeben pflegen, spielt eine
der bedeutungsvollsten Rollen in der Entwickelungsgeschichte Frankreichs. In
wie engem Zusammenhange diese Richtung auf den Radicalismus mit dem
traditionellen Centralisationsprincip steht, haben wir schon nachgewiesen. Zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/53>, abgerufen am 24.07.2024.