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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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der ihn besucht, die imponirende Thatsache mittheilen kann, daß zu dieser
Stunde in allen Lyceen Frankreichs derselbe mathematische Lehrsatz docirt
wird. Er unterwirft das Kleinste seiner Leitung, weil er weiß, daß aus
scheinbar unbedeutenden Elementen sich die öffentliche Meinung zusammensetzt,
deren Beherrschung er als seine höchste Aufgabe betrachtet. Gegen jede Re¬
gung eines selbständigen Urtheils schickt er seine Präfecten und seine Presse
ins Feld, krineipiis odstg. ist sein Grundsatz, regieren ist ihm gleichbedeu¬
tend mit kämpfen. Die Politik des "Widerstandes," d. h, der grundsätzliche
Kampf des Autoritätsprincips wider das revolutionäre Princip, ist die noth¬
wendige Consequenz des französischen Staatssystems. Denn die öffentliche
Meinung in den Provinzen würde, da es ihr an allen natürlichen localen
Krystallisationspunkten fehlt, und sie doch das Bedürfniß hat, sich bestimmen
zu lassen, sich willenlos den excentrischen Ideen hingeben, die in der Haupt¬
stadt üppig emporwachsen, wenn nicht der Präfect seine amtliche Autorität
für die Sache der Ordnung einsetzte.

In dem Bekämpfen der öffentlichen Meinung also, soweit sie nicht in
den Kammermajoritäten ihren officiellen Ausdruck fand, bestand das Wesen
der "Politik des Widerstandes," als deren energischster Vertreter Guizot be¬
kannt ist, der aber im Grunde auch seine Gegner gehuldigt haben, wenn sie
auch, weniger stolz und herrisch als jener kraftvollste Vertreter des Autoritäts¬
princips, dieselbe verleugneten und in den Besitz der Macht gelangt, möglichst
verhüllten. Im Wesentlichen aber standen alle Ministerien, die der Reihe
nach in Frankreich gewaltet haben, in dieser Beziehung auf demselben Stand¬
punct: das politische Denken der Franzosen von Oben herab zu reguliren,
betrachteten sie alle als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Mochten die Einen
das Geschäft mit größter Offenheit, die Anderen mehr in der Stille betreiben,
geruht hat die Arbeit keinen Augenblick und unter keinem Regime. Jede Re¬
gierung strebte nach der Dictatur auch im Gebiete des politischen Denkens,
"und die parlamentarische Dictatur unterschied sich von der kaiserlichen im
Grunde weniger dem Wesen als der Form nach.

Eine unbedingt centralisirte und das gesammte politische und geistige
Leben der Nation zu centralisiren bestrebte Verwaltung und eine in dem un¬
aufhörlich gährenden und sprudelnden Mittelpunkt des Landes, in Paris, ge¬
machte und von dort über alle Departements verbreitete öffentliche Meinung,
das waren die beiden Mächte, die bald sich bekämpfend, bald sich die Hände
reichend, über das Schicksal Frankreichs verfügten. Zeigte sich die Stimmung
in Paris der Regierung feindlich, so sah diese sich darauf beschränkt, die Ein¬
wirkung der Hauptstadt auf die Departements durch die Präfecten und deren
Unterbeamte und Preßorgane zu neutralisiren, um wenigstens bei den Wah¬
len die Opposition zu schlagen und dadurch den Beweis zu liefern, daß das


der ihn besucht, die imponirende Thatsache mittheilen kann, daß zu dieser
Stunde in allen Lyceen Frankreichs derselbe mathematische Lehrsatz docirt
wird. Er unterwirft das Kleinste seiner Leitung, weil er weiß, daß aus
scheinbar unbedeutenden Elementen sich die öffentliche Meinung zusammensetzt,
deren Beherrschung er als seine höchste Aufgabe betrachtet. Gegen jede Re¬
gung eines selbständigen Urtheils schickt er seine Präfecten und seine Presse
ins Feld, krineipiis odstg. ist sein Grundsatz, regieren ist ihm gleichbedeu¬
tend mit kämpfen. Die Politik des „Widerstandes," d. h, der grundsätzliche
Kampf des Autoritätsprincips wider das revolutionäre Princip, ist die noth¬
wendige Consequenz des französischen Staatssystems. Denn die öffentliche
Meinung in den Provinzen würde, da es ihr an allen natürlichen localen
Krystallisationspunkten fehlt, und sie doch das Bedürfniß hat, sich bestimmen
zu lassen, sich willenlos den excentrischen Ideen hingeben, die in der Haupt¬
stadt üppig emporwachsen, wenn nicht der Präfect seine amtliche Autorität
für die Sache der Ordnung einsetzte.

In dem Bekämpfen der öffentlichen Meinung also, soweit sie nicht in
den Kammermajoritäten ihren officiellen Ausdruck fand, bestand das Wesen
der „Politik des Widerstandes," als deren energischster Vertreter Guizot be¬
kannt ist, der aber im Grunde auch seine Gegner gehuldigt haben, wenn sie
auch, weniger stolz und herrisch als jener kraftvollste Vertreter des Autoritäts¬
princips, dieselbe verleugneten und in den Besitz der Macht gelangt, möglichst
verhüllten. Im Wesentlichen aber standen alle Ministerien, die der Reihe
nach in Frankreich gewaltet haben, in dieser Beziehung auf demselben Stand¬
punct: das politische Denken der Franzosen von Oben herab zu reguliren,
betrachteten sie alle als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Mochten die Einen
das Geschäft mit größter Offenheit, die Anderen mehr in der Stille betreiben,
geruht hat die Arbeit keinen Augenblick und unter keinem Regime. Jede Re¬
gierung strebte nach der Dictatur auch im Gebiete des politischen Denkens,
"und die parlamentarische Dictatur unterschied sich von der kaiserlichen im
Grunde weniger dem Wesen als der Form nach.

Eine unbedingt centralisirte und das gesammte politische und geistige
Leben der Nation zu centralisiren bestrebte Verwaltung und eine in dem un¬
aufhörlich gährenden und sprudelnden Mittelpunkt des Landes, in Paris, ge¬
machte und von dort über alle Departements verbreitete öffentliche Meinung,
das waren die beiden Mächte, die bald sich bekämpfend, bald sich die Hände
reichend, über das Schicksal Frankreichs verfügten. Zeigte sich die Stimmung
in Paris der Regierung feindlich, so sah diese sich darauf beschränkt, die Ein¬
wirkung der Hauptstadt auf die Departements durch die Präfecten und deren
Unterbeamte und Preßorgane zu neutralisiren, um wenigstens bei den Wah¬
len die Opposition zu schlagen und dadurch den Beweis zu liefern, daß das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/52>, abgerufen am 24.07.2024.