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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Gewinn. Die Doktrinäre des Constitutionalismus verwechselten eben die
Staatsform, welche, wenn sie aus der ihrem Wesen entsprechenden Grundlage
ruht, unter den-modernen Verhältnissen die sicherste Bürgschaft für eine ste¬
tige Entwickelung der politischen Freiheit bietet, mit der Freiheit selbst. Daß
die Freiheit die lebendige Betheiligung der Individuen an der Verwaltung
der öffentlichen Angelegenheiten zur Voraussetzung hat, daß nur der Staat
frei ist, in dem die Centralgewalt ihre Schranken findet in einem kräftigen
Communalorganismus, daß die Gemeindeverwaltung die Schule ist, in der
der politische Charakter und der Freiheitssinn des Volkes sich bildet, das sind
Gedanken, die völlig außerhalb des beschränkten Gesichtskreises der französischen
Staatsmänner lagen. Die französische Volksvertretung betrachtete, wie das eng¬
lische Parlament, die Minister als die Mandatare der parlamentarischen Majori¬
tät, sich selbst als die Trägerin des absoluten Autoritätsprincips, in dessen
rücksichtsloser Entwickelung sie die einzige Bürgschaft gegen die permanente
Anarchie, gegen die gewohnheitsmäßige Revolution sah. Aber daß das englische
Parlament aus der Communalverwaltung erwachsen ist und auf der Com-
munalfreiheit beruht, diese Thatsache war den französischen Politikern völlig
unfaßbar; die Communalfreiheit selbst war ihnen? ein Gegenstand der Furcht,
da sie in jeder Regung corporativen Unabhängigkeitsgefühls sofort ein Symp¬
tom der "Anarchie der öffentlichen Meinung" witterten.

Und diese Furcht vor der Anarchie der öffentlichen Meinung war ja in
Frankreich keineswegs unbegründet. Wenn in einem Lande keine relativ
selbständigen Zwischenstufen zwischen der höchsten Centralgewalt und den in gesell¬
schaftlichen Classen zusammengeballten Individuen bestehen, wenn dem politi¬
schen Streben des Einzelnen jede Möglichkeit der Bethätigung im engeren
Kreise, d. h. der selbständigen Betheiligung an der Verwaltung der ihn zu¬
nächst und unmittelbar berührenden localen Angelegenheiten entzogen ist, so
ist natürlich, daß die Wellen der leicht erregten öffentlichen Meinung sich stets
bis zu den Spitzen des Staats fortpflanzen, daß alle localen Beschwerden
ihre Abhülfe, alle localen Bedürfnisse ihre Befriedigung sofort an der höchsten
Stelle suchen, daß jeder Mißgriff eines Feldhüters oder Gendarmen zu einem
hochwichtigen Ereigniß wird, das der Opposition willkommenen Stoff zu einem
Angriff gegen das Ministerium bietet, daß endlich auch die Differenzen zwi¬
schen den socialen Classen, die doppelt gefährlich sind in einer Gesellschaft,
welche die abstracte Gleichheit als höchstes Staatsprincip aufstellt, ihre Aus¬
gleichung ausschließlich vom Staat verlangen. In Frankreich kann der Mi¬
nister nicht sagen: Nimm", non curat praetor. Er kann nicht und will
nicht; denn er ist selbst stolz darauf, daß auch das Unbedeutendste von feiner
Allgewalt und Allgegenwärtigkeit Zeugniß ablegt; er fühlt sich wie ein irdi¬
scher Gott, wenn bei einem Blick auf seine Uhr er dem fremden Gelehrten,


Gewinn. Die Doktrinäre des Constitutionalismus verwechselten eben die
Staatsform, welche, wenn sie aus der ihrem Wesen entsprechenden Grundlage
ruht, unter den-modernen Verhältnissen die sicherste Bürgschaft für eine ste¬
tige Entwickelung der politischen Freiheit bietet, mit der Freiheit selbst. Daß
die Freiheit die lebendige Betheiligung der Individuen an der Verwaltung
der öffentlichen Angelegenheiten zur Voraussetzung hat, daß nur der Staat
frei ist, in dem die Centralgewalt ihre Schranken findet in einem kräftigen
Communalorganismus, daß die Gemeindeverwaltung die Schule ist, in der
der politische Charakter und der Freiheitssinn des Volkes sich bildet, das sind
Gedanken, die völlig außerhalb des beschränkten Gesichtskreises der französischen
Staatsmänner lagen. Die französische Volksvertretung betrachtete, wie das eng¬
lische Parlament, die Minister als die Mandatare der parlamentarischen Majori¬
tät, sich selbst als die Trägerin des absoluten Autoritätsprincips, in dessen
rücksichtsloser Entwickelung sie die einzige Bürgschaft gegen die permanente
Anarchie, gegen die gewohnheitsmäßige Revolution sah. Aber daß das englische
Parlament aus der Communalverwaltung erwachsen ist und auf der Com-
munalfreiheit beruht, diese Thatsache war den französischen Politikern völlig
unfaßbar; die Communalfreiheit selbst war ihnen? ein Gegenstand der Furcht,
da sie in jeder Regung corporativen Unabhängigkeitsgefühls sofort ein Symp¬
tom der „Anarchie der öffentlichen Meinung" witterten.

Und diese Furcht vor der Anarchie der öffentlichen Meinung war ja in
Frankreich keineswegs unbegründet. Wenn in einem Lande keine relativ
selbständigen Zwischenstufen zwischen der höchsten Centralgewalt und den in gesell¬
schaftlichen Classen zusammengeballten Individuen bestehen, wenn dem politi¬
schen Streben des Einzelnen jede Möglichkeit der Bethätigung im engeren
Kreise, d. h. der selbständigen Betheiligung an der Verwaltung der ihn zu¬
nächst und unmittelbar berührenden localen Angelegenheiten entzogen ist, so
ist natürlich, daß die Wellen der leicht erregten öffentlichen Meinung sich stets
bis zu den Spitzen des Staats fortpflanzen, daß alle localen Beschwerden
ihre Abhülfe, alle localen Bedürfnisse ihre Befriedigung sofort an der höchsten
Stelle suchen, daß jeder Mißgriff eines Feldhüters oder Gendarmen zu einem
hochwichtigen Ereigniß wird, das der Opposition willkommenen Stoff zu einem
Angriff gegen das Ministerium bietet, daß endlich auch die Differenzen zwi¬
schen den socialen Classen, die doppelt gefährlich sind in einer Gesellschaft,
welche die abstracte Gleichheit als höchstes Staatsprincip aufstellt, ihre Aus¬
gleichung ausschließlich vom Staat verlangen. In Frankreich kann der Mi¬
nister nicht sagen: Nimm», non curat praetor. Er kann nicht und will
nicht; denn er ist selbst stolz darauf, daß auch das Unbedeutendste von feiner
Allgewalt und Allgegenwärtigkeit Zeugniß ablegt; er fühlt sich wie ein irdi¬
scher Gott, wenn bei einem Blick auf seine Uhr er dem fremden Gelehrten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/51>, abgerufen am 24.07.2024.