Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.0x. 12), als besonders hervortretend dürften jedoch nur A. Reichel's 0p. 22, Nicht alle Tonsätze der alten Meister sind für unsere Zeit noch genie߬ 0x. 12), als besonders hervortretend dürften jedoch nur A. Reichel's 0p. 22, Nicht alle Tonsätze der alten Meister sind für unsere Zeit noch genie߬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126700"/> <p xml:id="ID_1267" prev="#ID_1266"> 0x. 12), als besonders hervortretend dürften jedoch nur A. Reichel's 0p. 22,<lb/> vier Lieder für fünf Stimmen und 0p. 23 fünf Lieder für vier Stimmen<lb/> (L. B. Leuckart) zu bezeichnen sein. Der Componist zeigt sich in diesen Ge¬<lb/> sängen als ein sehr gewandter, geistreicher Contrapunktist. Er hat sich die<lb/> satzweise der großen Meister des 16. und 17. Jahrhunderts Zum Muster ge¬<lb/> nommen und ohne Nachahmer zu werden, doch mit großem Geschick deren stren¬<lb/> gen, ernsten, aber auch schwierigen Tonsatz für moderne Dichtungen zurück¬<lb/> gewonnen, den man allerdings in den mehrstimmigen Gesängen der neueren<lb/> Meister mehr oder minder vermißt. Aber wollten diese sich eben gesungen<lb/> sehen, sollte die Verlorne Tonform überhaupt neu belebt werden, so mußten<lb/> die Componisten sich eine gewisse polyphone Beschränkung auferlegen, und daß<lb/> auch trotz derselben Herrliches geboten werden konnte, haben sie glänzend be¬<lb/> wiesen. Noch ist ein neuester Tonsetzer zu nennen, von dem auch in dieser<lb/> Gattung bereits Hervortretendes geschaffen wurde, noch Schöneres zu erwar¬<lb/> ten steht: I. Brahms, an Originalität und schöpferischer Kraft nur von<lb/> Schumann übertroffen, aber vielleicht noch kühner wie dieser.</p><lb/> <p xml:id="ID_1268" next="#ID_1269"> Nicht alle Tonsätze der alten Meister sind für unsere Zeit noch genie߬<lb/> bar. Sehr viele derselben sind veraltet, können nur antiquarisches Interesse<lb/> noch beanspruchen. Daß es aber auch ganz vorzügliche und unvergängliche<lb/> Piecen unter diesen leider meist vergessenen Compositionen gibt, das beweisen<lb/> einzelne wiedererweckte Gesänge französischer, italienischer, deutscher, namentlich<lb/> englischer Tonsetzer. Es ist eine saure, mühsame Arbeit solche Perlen hervor-<lb/> zusuchen, es gehört ein feiner Sinn, ein gebildeter Geschmack, ein tiefes Kunst¬<lb/> verständniß dazu das Nichtige und Lebenskräftige heraus zu finden, eine<lb/> Sammlung zusammenzustellen, die in Wahrheit den Namen einer Blumen¬<lb/> lese verdient. Die Schwierigkeiten dieser Art Schatzgräberei werden nur von<lb/> Wenigen gekannt und gewürdigt. Die Verleger bezahlen für solche Arbeiten<lb/> so gut wie nichts und entschließen sich trotzdem nur äußerst ungern zu Edi¬<lb/> tionen alter Musik; das Publicum wendet ihnen noch nicht die nöthige und<lb/> verdiente Theilnahme zu, welche Sammler und Verleger entschädigen und<lb/> ermuthigen könnte. Zudem wollen Werke alter Meister eben doch ver¬<lb/> standen und studirr sein. Was aber besonders die Zusammenstellung solcher<lb/> älterer Musikwerke so sehr erschwert, ist der vollständige Mangel aller Parti¬<lb/> turausgaben. Die Meister des 16. und 17. Jahrhunderts existiren nur in<lb/> Stimmenausgaben. Wer sich für sie interessirt, muß sich also aus den Stim¬<lb/> men die Sparten erst zusammenschreiben, er muß falsche Noten korrigiren,<lb/> fehlende ersetzen können, in der ältern Notation bewandert sein und nament¬<lb/> lich die eigenthümliche Anwendung der Versetzungszeichen und die Behandlung<lb/> der alten Tonarten genau verstehen. Auch das Unterlegen der Texte ist meist<lb/> mit großen Schwierigkeiten verknüpft, denn in alten Stimmenausgaben sind</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0424]
0x. 12), als besonders hervortretend dürften jedoch nur A. Reichel's 0p. 22,
vier Lieder für fünf Stimmen und 0p. 23 fünf Lieder für vier Stimmen
(L. B. Leuckart) zu bezeichnen sein. Der Componist zeigt sich in diesen Ge¬
sängen als ein sehr gewandter, geistreicher Contrapunktist. Er hat sich die
satzweise der großen Meister des 16. und 17. Jahrhunderts Zum Muster ge¬
nommen und ohne Nachahmer zu werden, doch mit großem Geschick deren stren¬
gen, ernsten, aber auch schwierigen Tonsatz für moderne Dichtungen zurück¬
gewonnen, den man allerdings in den mehrstimmigen Gesängen der neueren
Meister mehr oder minder vermißt. Aber wollten diese sich eben gesungen
sehen, sollte die Verlorne Tonform überhaupt neu belebt werden, so mußten
die Componisten sich eine gewisse polyphone Beschränkung auferlegen, und daß
auch trotz derselben Herrliches geboten werden konnte, haben sie glänzend be¬
wiesen. Noch ist ein neuester Tonsetzer zu nennen, von dem auch in dieser
Gattung bereits Hervortretendes geschaffen wurde, noch Schöneres zu erwar¬
ten steht: I. Brahms, an Originalität und schöpferischer Kraft nur von
Schumann übertroffen, aber vielleicht noch kühner wie dieser.
Nicht alle Tonsätze der alten Meister sind für unsere Zeit noch genie߬
bar. Sehr viele derselben sind veraltet, können nur antiquarisches Interesse
noch beanspruchen. Daß es aber auch ganz vorzügliche und unvergängliche
Piecen unter diesen leider meist vergessenen Compositionen gibt, das beweisen
einzelne wiedererweckte Gesänge französischer, italienischer, deutscher, namentlich
englischer Tonsetzer. Es ist eine saure, mühsame Arbeit solche Perlen hervor-
zusuchen, es gehört ein feiner Sinn, ein gebildeter Geschmack, ein tiefes Kunst¬
verständniß dazu das Nichtige und Lebenskräftige heraus zu finden, eine
Sammlung zusammenzustellen, die in Wahrheit den Namen einer Blumen¬
lese verdient. Die Schwierigkeiten dieser Art Schatzgräberei werden nur von
Wenigen gekannt und gewürdigt. Die Verleger bezahlen für solche Arbeiten
so gut wie nichts und entschließen sich trotzdem nur äußerst ungern zu Edi¬
tionen alter Musik; das Publicum wendet ihnen noch nicht die nöthige und
verdiente Theilnahme zu, welche Sammler und Verleger entschädigen und
ermuthigen könnte. Zudem wollen Werke alter Meister eben doch ver¬
standen und studirr sein. Was aber besonders die Zusammenstellung solcher
älterer Musikwerke so sehr erschwert, ist der vollständige Mangel aller Parti¬
turausgaben. Die Meister des 16. und 17. Jahrhunderts existiren nur in
Stimmenausgaben. Wer sich für sie interessirt, muß sich also aus den Stim¬
men die Sparten erst zusammenschreiben, er muß falsche Noten korrigiren,
fehlende ersetzen können, in der ältern Notation bewandert sein und nament¬
lich die eigenthümliche Anwendung der Versetzungszeichen und die Behandlung
der alten Tonarten genau verstehen. Auch das Unterlegen der Texte ist meist
mit großen Schwierigkeiten verknüpft, denn in alten Stimmenausgaben sind
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