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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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schreiblustiger werdenden Laien anfänglich noch jenes Gebiet gleichsam als ihre
althergebrachte Domäne überließen. Aber der neue Geist zwang auch hier zu
weiteren Concessionen. Aus der Mitte der Geistlichkeit wurde auch der Ver¬
such gemacht, die Geschichte nicht bloß in deutschen Versen, sondern auch in
deutscher Prosa zu behandeln, also diejenige Form, die dem bisher allein be¬
rechtigten exclusiver Leserkreis doch immer als die eigentlich natürliche oder
berechtigte für geschichtliche Stoffe galt, durch die Herüberleitung in die deutsche
Sprache dem ganzen Volke zugänglich zu machen. Es war eine große und
folgenschwere That, obgleich sich ihr Urheber wie gewöhnlich dessen nicht bewußt
wurde, als ein geistlicher, Mann in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhun-
hunderts unternahm, was er von der Weltgeschichte wußte, in deutscher
Prosa zu erzählen. Die sogenannte Repkow'sche Kaiserchronik, sogenannt,
sagen wir, weil ihr Verfasser jedenfalls nicht der als Verfasser des Sachsen¬
spiegels bekannte Eile von Repkow, ein Mann aus dem Ritterstande sein
kann, berührt sich in ihrem Aeußern, der Besonderheit der Sprache, der
Zeit und dem Ort der Entstehung mit dem Sachsenspiegel so nahe, daß
sich begreifen läßt, wie man ihr denselben Urheber zuschreiben konnte, beson¬
ders da eine etwas zweideutige Stelle in der gereimten Vorrede der Chronik
darauf hinzuweisen schien. Aber die Kritik ist berechtigt, diese Annahme zu¬
rückzuweisen. Nur in einem höhern Sinn als dem der buchstäblichen Wirk¬
lichkeit bleibt sie doch wahr: es ist derselbe Geist, der den Sachsenspiegel zu
einem so merkwürdigen, ja geradezu einzigen Denkmal unserer Volksentwicke¬
lung stempelt, auch in der sächsischen Kaiserchronik deutlich wahrzunehmen.
Bis dahin hat die deutsche Welt da, wo sie deutsch fühlte und dachte, sich
in einer erträumten Sphäre, in einem phantastischen Raume, unter und
mit Gestalten aus Luft und Dunst gewoben, bewegt. Im Sachsenspiegel
greift sie zum ersten Male in die derbste Gegenständlichkeit des Lebens, und
dasselbe thut sie in der sächsischen Kaiserchronik. Bis dahin galt als her¬
kömmlich und deßhalb für geheiligte Norm, daß Gesetz und Recht nur in
lateinischer Sprache geschrieben werben könnten. Jede Privat - Urkunde scheint
mehr dadurch, daß sie lateinisch verfaßt wurde, den Charakter der Sicherheit
und Zuverlässigkeit zu empfangen, als durch ihren Inhalt oder die sonstigen
Formalitäten bei ihrer Ausstellung. Vollends das öffentliche Recht, wie es
von Kaiser und Reich, von Fürsten und Herren, von Städten und Gemein¬
den ausging, konnte man sich gar nicht anders als in der geweihten Sprache
der Capitularien und der kaiserlichen Kanzlei denken. Es war ein großer
Mann, der es zuerst wagte, ein ganzes Rechtsbuch in deutscher Sprache zu
verfassen, und groß blieb er auch dann, wenn sein Versuch bloß ein Versuch
geworden wäre und nicht das, was der Sachsenspiegel ist, ein in seiner Art
vollendetes Meisterstück volkstümlicher Darstellung. Denn was an schole-


schreiblustiger werdenden Laien anfänglich noch jenes Gebiet gleichsam als ihre
althergebrachte Domäne überließen. Aber der neue Geist zwang auch hier zu
weiteren Concessionen. Aus der Mitte der Geistlichkeit wurde auch der Ver¬
such gemacht, die Geschichte nicht bloß in deutschen Versen, sondern auch in
deutscher Prosa zu behandeln, also diejenige Form, die dem bisher allein be¬
rechtigten exclusiver Leserkreis doch immer als die eigentlich natürliche oder
berechtigte für geschichtliche Stoffe galt, durch die Herüberleitung in die deutsche
Sprache dem ganzen Volke zugänglich zu machen. Es war eine große und
folgenschwere That, obgleich sich ihr Urheber wie gewöhnlich dessen nicht bewußt
wurde, als ein geistlicher, Mann in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhun-
hunderts unternahm, was er von der Weltgeschichte wußte, in deutscher
Prosa zu erzählen. Die sogenannte Repkow'sche Kaiserchronik, sogenannt,
sagen wir, weil ihr Verfasser jedenfalls nicht der als Verfasser des Sachsen¬
spiegels bekannte Eile von Repkow, ein Mann aus dem Ritterstande sein
kann, berührt sich in ihrem Aeußern, der Besonderheit der Sprache, der
Zeit und dem Ort der Entstehung mit dem Sachsenspiegel so nahe, daß
sich begreifen läßt, wie man ihr denselben Urheber zuschreiben konnte, beson¬
ders da eine etwas zweideutige Stelle in der gereimten Vorrede der Chronik
darauf hinzuweisen schien. Aber die Kritik ist berechtigt, diese Annahme zu¬
rückzuweisen. Nur in einem höhern Sinn als dem der buchstäblichen Wirk¬
lichkeit bleibt sie doch wahr: es ist derselbe Geist, der den Sachsenspiegel zu
einem so merkwürdigen, ja geradezu einzigen Denkmal unserer Volksentwicke¬
lung stempelt, auch in der sächsischen Kaiserchronik deutlich wahrzunehmen.
Bis dahin hat die deutsche Welt da, wo sie deutsch fühlte und dachte, sich
in einer erträumten Sphäre, in einem phantastischen Raume, unter und
mit Gestalten aus Luft und Dunst gewoben, bewegt. Im Sachsenspiegel
greift sie zum ersten Male in die derbste Gegenständlichkeit des Lebens, und
dasselbe thut sie in der sächsischen Kaiserchronik. Bis dahin galt als her¬
kömmlich und deßhalb für geheiligte Norm, daß Gesetz und Recht nur in
lateinischer Sprache geschrieben werben könnten. Jede Privat - Urkunde scheint
mehr dadurch, daß sie lateinisch verfaßt wurde, den Charakter der Sicherheit
und Zuverlässigkeit zu empfangen, als durch ihren Inhalt oder die sonstigen
Formalitäten bei ihrer Ausstellung. Vollends das öffentliche Recht, wie es
von Kaiser und Reich, von Fürsten und Herren, von Städten und Gemein¬
den ausging, konnte man sich gar nicht anders als in der geweihten Sprache
der Capitularien und der kaiserlichen Kanzlei denken. Es war ein großer
Mann, der es zuerst wagte, ein ganzes Rechtsbuch in deutscher Sprache zu
verfassen, und groß blieb er auch dann, wenn sein Versuch bloß ein Versuch
geworden wäre und nicht das, was der Sachsenspiegel ist, ein in seiner Art
vollendetes Meisterstück volkstümlicher Darstellung. Denn was an schole-


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[0384] schreiblustiger werdenden Laien anfänglich noch jenes Gebiet gleichsam als ihre althergebrachte Domäne überließen. Aber der neue Geist zwang auch hier zu weiteren Concessionen. Aus der Mitte der Geistlichkeit wurde auch der Ver¬ such gemacht, die Geschichte nicht bloß in deutschen Versen, sondern auch in deutscher Prosa zu behandeln, also diejenige Form, die dem bisher allein be¬ rechtigten exclusiver Leserkreis doch immer als die eigentlich natürliche oder berechtigte für geschichtliche Stoffe galt, durch die Herüberleitung in die deutsche Sprache dem ganzen Volke zugänglich zu machen. Es war eine große und folgenschwere That, obgleich sich ihr Urheber wie gewöhnlich dessen nicht bewußt wurde, als ein geistlicher, Mann in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhun- hunderts unternahm, was er von der Weltgeschichte wußte, in deutscher Prosa zu erzählen. Die sogenannte Repkow'sche Kaiserchronik, sogenannt, sagen wir, weil ihr Verfasser jedenfalls nicht der als Verfasser des Sachsen¬ spiegels bekannte Eile von Repkow, ein Mann aus dem Ritterstande sein kann, berührt sich in ihrem Aeußern, der Besonderheit der Sprache, der Zeit und dem Ort der Entstehung mit dem Sachsenspiegel so nahe, daß sich begreifen läßt, wie man ihr denselben Urheber zuschreiben konnte, beson¬ ders da eine etwas zweideutige Stelle in der gereimten Vorrede der Chronik darauf hinzuweisen schien. Aber die Kritik ist berechtigt, diese Annahme zu¬ rückzuweisen. Nur in einem höhern Sinn als dem der buchstäblichen Wirk¬ lichkeit bleibt sie doch wahr: es ist derselbe Geist, der den Sachsenspiegel zu einem so merkwürdigen, ja geradezu einzigen Denkmal unserer Volksentwicke¬ lung stempelt, auch in der sächsischen Kaiserchronik deutlich wahrzunehmen. Bis dahin hat die deutsche Welt da, wo sie deutsch fühlte und dachte, sich in einer erträumten Sphäre, in einem phantastischen Raume, unter und mit Gestalten aus Luft und Dunst gewoben, bewegt. Im Sachsenspiegel greift sie zum ersten Male in die derbste Gegenständlichkeit des Lebens, und dasselbe thut sie in der sächsischen Kaiserchronik. Bis dahin galt als her¬ kömmlich und deßhalb für geheiligte Norm, daß Gesetz und Recht nur in lateinischer Sprache geschrieben werben könnten. Jede Privat - Urkunde scheint mehr dadurch, daß sie lateinisch verfaßt wurde, den Charakter der Sicherheit und Zuverlässigkeit zu empfangen, als durch ihren Inhalt oder die sonstigen Formalitäten bei ihrer Ausstellung. Vollends das öffentliche Recht, wie es von Kaiser und Reich, von Fürsten und Herren, von Städten und Gemein¬ den ausging, konnte man sich gar nicht anders als in der geweihten Sprache der Capitularien und der kaiserlichen Kanzlei denken. Es war ein großer Mann, der es zuerst wagte, ein ganzes Rechtsbuch in deutscher Sprache zu verfassen, und groß blieb er auch dann, wenn sein Versuch bloß ein Versuch geworden wäre und nicht das, was der Sachsenspiegel ist, ein in seiner Art vollendetes Meisterstück volkstümlicher Darstellung. Denn was an schole-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/384>, abgerufen am 24.07.2024.