Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Sterz desselben längst keine Ahnung hatten, sondern nur aus dem Copiren
der selbst schon hundertfach copirten Copien die Bedingungen ihres Da¬
seins zogen.

Daß sich dabei unwillkürlich die Gesammtanschauung, oder der Geist des
Originals in die entsprechenden Wandelungen des jedesmaligen Zeitgeschmackes
oder Zeitbedürfnisses umsetzte, versteht sich von selbst, aber es blieb doch nach
wie vor jener fundamentale Charakterzug dieser ganzen Historiographie be¬
stehen, der die Form der Poesie ohne alles Bedenken auf die Darstellung der
Wirklichkeit übertrug. Je mehr das spätere Mittelalter seine Augen für die
Wirklichkeit schärfte, desto greller mußte freilich auch der Contrast zwischen
einer solchen Form und dem Inhalt heraustreten oder richtiger gesagt, er
tritt für unsere kritischgeschulten Augen heraus, die Zeitgenossen und Leser
empfanden ihn, wie es scheint, lange gar nicht und wo sie es thaten, nur
instinctiv. So konnte die Reimchronik, das stets zeitgemäß verjüngte Abbild
der Kaiserchronik, in ganz lebendiger Tradition neben den andern Formen der
geschichtlichen Darstellung, denen sie als gleichberechtigt galt, bis dahin fort¬
dauern, wo überhaupt die mittelalterliche Tradition auf allen Gebieten der
Geschichtschreibung nicht bloß, sondern überall in der ganzen schönen und
wissenschaftlichen Literatur durch die neue Richtung der gelehrten Bildung auf
der Grundlage der klassischen Studien beseitigt wurde. Die Reimchroniken
des 13., 16., ja noch aus dem Beginne des 17. Jahrhunderts sind in ihrer
Art noch eben so allgemein anerkannte, gerne gelesene und mit Achtung be¬
handelte Repräsentanten der Geschichtschreibung ihrer Zeit, wie es die Braun¬
schweiger des 13., oder die Ottokars v. Steier aus dem Anfange des 14.
Jahrhunderts waren. Daß für einen heutigen Geschmack ihre Lectüre in dem
Grade unerquicklicher wird, als sie der Zeit nach uns näherkommen, entscheidet
über ihre culturgeschichtliche Stellung und Bedeutung in ihrem Kreise und
in ihrer Zeit nichts. Begreiflich fühlen wir die immer weiter gähnende Kluft
zwischen dem immer realer, oder richtiger gesagt, prosaischer werdenden Inhalt
und der conventionell festgehaltenen poetischen Form als eine arge Beleidi¬
gung unserer Geschmacksnerven. Die Zeitgenossen aber standen so völlig
unter dem Banne dieser konventionellen durch Jahrhunderte bestätigten und
geheiligten Form, daß sie daran keinen Anstoß zu nehmen wagten, so wenig
Wie wir kritischen Geister von heute an irgend einer sinnlos gewordenen Form
der Etiquette oder der geselligen Höflichkeit.

Mit der Kaiserchronik war eine Geschichtschreibung in deutscher Sprache
gleichsam von der Kirche selbst sanctionirt. Diese dachte nicht daran, sie
überhaupt aus der Hand zu geben, und die Richtung des Volksgeistes ging
zunächst so entschieden nach einer andern Seite hin, nach der, welche auch
uns als eigentliche Poesie erscheint, daß ihr die immer schreibfertiger und


Sterz desselben längst keine Ahnung hatten, sondern nur aus dem Copiren
der selbst schon hundertfach copirten Copien die Bedingungen ihres Da¬
seins zogen.

Daß sich dabei unwillkürlich die Gesammtanschauung, oder der Geist des
Originals in die entsprechenden Wandelungen des jedesmaligen Zeitgeschmackes
oder Zeitbedürfnisses umsetzte, versteht sich von selbst, aber es blieb doch nach
wie vor jener fundamentale Charakterzug dieser ganzen Historiographie be¬
stehen, der die Form der Poesie ohne alles Bedenken auf die Darstellung der
Wirklichkeit übertrug. Je mehr das spätere Mittelalter seine Augen für die
Wirklichkeit schärfte, desto greller mußte freilich auch der Contrast zwischen
einer solchen Form und dem Inhalt heraustreten oder richtiger gesagt, er
tritt für unsere kritischgeschulten Augen heraus, die Zeitgenossen und Leser
empfanden ihn, wie es scheint, lange gar nicht und wo sie es thaten, nur
instinctiv. So konnte die Reimchronik, das stets zeitgemäß verjüngte Abbild
der Kaiserchronik, in ganz lebendiger Tradition neben den andern Formen der
geschichtlichen Darstellung, denen sie als gleichberechtigt galt, bis dahin fort¬
dauern, wo überhaupt die mittelalterliche Tradition auf allen Gebieten der
Geschichtschreibung nicht bloß, sondern überall in der ganzen schönen und
wissenschaftlichen Literatur durch die neue Richtung der gelehrten Bildung auf
der Grundlage der klassischen Studien beseitigt wurde. Die Reimchroniken
des 13., 16., ja noch aus dem Beginne des 17. Jahrhunderts sind in ihrer
Art noch eben so allgemein anerkannte, gerne gelesene und mit Achtung be¬
handelte Repräsentanten der Geschichtschreibung ihrer Zeit, wie es die Braun¬
schweiger des 13., oder die Ottokars v. Steier aus dem Anfange des 14.
Jahrhunderts waren. Daß für einen heutigen Geschmack ihre Lectüre in dem
Grade unerquicklicher wird, als sie der Zeit nach uns näherkommen, entscheidet
über ihre culturgeschichtliche Stellung und Bedeutung in ihrem Kreise und
in ihrer Zeit nichts. Begreiflich fühlen wir die immer weiter gähnende Kluft
zwischen dem immer realer, oder richtiger gesagt, prosaischer werdenden Inhalt
und der conventionell festgehaltenen poetischen Form als eine arge Beleidi¬
gung unserer Geschmacksnerven. Die Zeitgenossen aber standen so völlig
unter dem Banne dieser konventionellen durch Jahrhunderte bestätigten und
geheiligten Form, daß sie daran keinen Anstoß zu nehmen wagten, so wenig
Wie wir kritischen Geister von heute an irgend einer sinnlos gewordenen Form
der Etiquette oder der geselligen Höflichkeit.

Mit der Kaiserchronik war eine Geschichtschreibung in deutscher Sprache
gleichsam von der Kirche selbst sanctionirt. Diese dachte nicht daran, sie
überhaupt aus der Hand zu geben, und die Richtung des Volksgeistes ging
zunächst so entschieden nach einer andern Seite hin, nach der, welche auch
uns als eigentliche Poesie erscheint, daß ihr die immer schreibfertiger und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0383" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126659"/>
          <p xml:id="ID_1162" prev="#ID_1161"> Sterz desselben längst keine Ahnung hatten, sondern nur aus dem Copiren<lb/>
der selbst schon hundertfach copirten Copien die Bedingungen ihres Da¬<lb/>
seins zogen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1163"> Daß sich dabei unwillkürlich die Gesammtanschauung, oder der Geist des<lb/>
Originals in die entsprechenden Wandelungen des jedesmaligen Zeitgeschmackes<lb/>
oder Zeitbedürfnisses umsetzte, versteht sich von selbst, aber es blieb doch nach<lb/>
wie vor jener fundamentale Charakterzug dieser ganzen Historiographie be¬<lb/>
stehen, der die Form der Poesie ohne alles Bedenken auf die Darstellung der<lb/>
Wirklichkeit übertrug. Je mehr das spätere Mittelalter seine Augen für die<lb/>
Wirklichkeit schärfte, desto greller mußte freilich auch der Contrast zwischen<lb/>
einer solchen Form und dem Inhalt heraustreten oder richtiger gesagt, er<lb/>
tritt für unsere kritischgeschulten Augen heraus, die Zeitgenossen und Leser<lb/>
empfanden ihn, wie es scheint, lange gar nicht und wo sie es thaten, nur<lb/>
instinctiv. So konnte die Reimchronik, das stets zeitgemäß verjüngte Abbild<lb/>
der Kaiserchronik, in ganz lebendiger Tradition neben den andern Formen der<lb/>
geschichtlichen Darstellung, denen sie als gleichberechtigt galt, bis dahin fort¬<lb/>
dauern, wo überhaupt die mittelalterliche Tradition auf allen Gebieten der<lb/>
Geschichtschreibung nicht bloß, sondern überall in der ganzen schönen und<lb/>
wissenschaftlichen Literatur durch die neue Richtung der gelehrten Bildung auf<lb/>
der Grundlage der klassischen Studien beseitigt wurde. Die Reimchroniken<lb/>
des 13., 16., ja noch aus dem Beginne des 17. Jahrhunderts sind in ihrer<lb/>
Art noch eben so allgemein anerkannte, gerne gelesene und mit Achtung be¬<lb/>
handelte Repräsentanten der Geschichtschreibung ihrer Zeit, wie es die Braun¬<lb/>
schweiger des 13., oder die Ottokars v. Steier aus dem Anfange des 14.<lb/>
Jahrhunderts waren. Daß für einen heutigen Geschmack ihre Lectüre in dem<lb/>
Grade unerquicklicher wird, als sie der Zeit nach uns näherkommen, entscheidet<lb/>
über ihre culturgeschichtliche Stellung und Bedeutung in ihrem Kreise und<lb/>
in ihrer Zeit nichts. Begreiflich fühlen wir die immer weiter gähnende Kluft<lb/>
zwischen dem immer realer, oder richtiger gesagt, prosaischer werdenden Inhalt<lb/>
und der conventionell festgehaltenen poetischen Form als eine arge Beleidi¬<lb/>
gung unserer Geschmacksnerven. Die Zeitgenossen aber standen so völlig<lb/>
unter dem Banne dieser konventionellen durch Jahrhunderte bestätigten und<lb/>
geheiligten Form, daß sie daran keinen Anstoß zu nehmen wagten, so wenig<lb/>
Wie wir kritischen Geister von heute an irgend einer sinnlos gewordenen Form<lb/>
der Etiquette oder der geselligen Höflichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1164" next="#ID_1165"> Mit der Kaiserchronik war eine Geschichtschreibung in deutscher Sprache<lb/>
gleichsam von der Kirche selbst sanctionirt. Diese dachte nicht daran, sie<lb/>
überhaupt aus der Hand zu geben, und die Richtung des Volksgeistes ging<lb/>
zunächst so entschieden nach einer andern Seite hin, nach der, welche auch<lb/>
uns als eigentliche Poesie erscheint, daß ihr die immer schreibfertiger und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0383] Sterz desselben längst keine Ahnung hatten, sondern nur aus dem Copiren der selbst schon hundertfach copirten Copien die Bedingungen ihres Da¬ seins zogen. Daß sich dabei unwillkürlich die Gesammtanschauung, oder der Geist des Originals in die entsprechenden Wandelungen des jedesmaligen Zeitgeschmackes oder Zeitbedürfnisses umsetzte, versteht sich von selbst, aber es blieb doch nach wie vor jener fundamentale Charakterzug dieser ganzen Historiographie be¬ stehen, der die Form der Poesie ohne alles Bedenken auf die Darstellung der Wirklichkeit übertrug. Je mehr das spätere Mittelalter seine Augen für die Wirklichkeit schärfte, desto greller mußte freilich auch der Contrast zwischen einer solchen Form und dem Inhalt heraustreten oder richtiger gesagt, er tritt für unsere kritischgeschulten Augen heraus, die Zeitgenossen und Leser empfanden ihn, wie es scheint, lange gar nicht und wo sie es thaten, nur instinctiv. So konnte die Reimchronik, das stets zeitgemäß verjüngte Abbild der Kaiserchronik, in ganz lebendiger Tradition neben den andern Formen der geschichtlichen Darstellung, denen sie als gleichberechtigt galt, bis dahin fort¬ dauern, wo überhaupt die mittelalterliche Tradition auf allen Gebieten der Geschichtschreibung nicht bloß, sondern überall in der ganzen schönen und wissenschaftlichen Literatur durch die neue Richtung der gelehrten Bildung auf der Grundlage der klassischen Studien beseitigt wurde. Die Reimchroniken des 13., 16., ja noch aus dem Beginne des 17. Jahrhunderts sind in ihrer Art noch eben so allgemein anerkannte, gerne gelesene und mit Achtung be¬ handelte Repräsentanten der Geschichtschreibung ihrer Zeit, wie es die Braun¬ schweiger des 13., oder die Ottokars v. Steier aus dem Anfange des 14. Jahrhunderts waren. Daß für einen heutigen Geschmack ihre Lectüre in dem Grade unerquicklicher wird, als sie der Zeit nach uns näherkommen, entscheidet über ihre culturgeschichtliche Stellung und Bedeutung in ihrem Kreise und in ihrer Zeit nichts. Begreiflich fühlen wir die immer weiter gähnende Kluft zwischen dem immer realer, oder richtiger gesagt, prosaischer werdenden Inhalt und der conventionell festgehaltenen poetischen Form als eine arge Beleidi¬ gung unserer Geschmacksnerven. Die Zeitgenossen aber standen so völlig unter dem Banne dieser konventionellen durch Jahrhunderte bestätigten und geheiligten Form, daß sie daran keinen Anstoß zu nehmen wagten, so wenig Wie wir kritischen Geister von heute an irgend einer sinnlos gewordenen Form der Etiquette oder der geselligen Höflichkeit. Mit der Kaiserchronik war eine Geschichtschreibung in deutscher Sprache gleichsam von der Kirche selbst sanctionirt. Diese dachte nicht daran, sie überhaupt aus der Hand zu geben, und die Richtung des Volksgeistes ging zunächst so entschieden nach einer andern Seite hin, nach der, welche auch uns als eigentliche Poesie erscheint, daß ihr die immer schreibfertiger und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/383
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/383>, abgerufen am 25.07.2024.