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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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rigkeiten für den modernen Erklärer darin enthalten sein mag, und dessen ist nicht
wenig, das war für den gleichzeitigen Leser nicht vorhanden. Er verstand und
empfand jedes Wort: wir, denen so viel thatsächliche Voraussetzungen abgehen,
die den Zeitgenossen angeboren waren, müssen freilich oft genug straucheln,
aber nicht öfter wie in jedem Geisteserzeugnisse solcher Art, das durch einen
sechshundertjährigen Raum von uns getrennt ist.

Alle Borzüge des Sachsenspiegels gebühren aber auch der Sächsischen
Kaiserchronik, sobald man nur die Subjectivität des modernen wissenschaft¬
lichen Bewußtseins nicht als Maßstab anlegt. Denn dieses wird leicht heraus¬
finden, daß ihr Verfasser ebenso unkritisch compilirte wie jeder andere in seiner
Zeit, der Geschichte schrieb und, setzen wir hinzu, wie es alle anderen Histori¬
ker, auch die mit den gelehrtesten Amtsmienen bis zu der neuesten Phase der
methodischen Quellenforschung und Kritik gethan haben. Der Historiker findet
darum auch hier so wenig wie in der gereimten Kaiserchronik "brauchbares
Material", so weit der Verfasser eben bloß andere bekannte und unbekannte
ältere Bücher abschreibt und auszieht. Aber da, wo er erzählt, was er selbst
als Zeitgenosse weniger gethan als gehört hat, da pflegt auch die moderne
Forschung ihm eine gewisse Anerkennung nicht zu versagen. Da ist das Buch
"eine ziemlich zuverlässige und oft sehr ergiebige Quelle" von Nachrichten, die
aus keiner andern zufließen, was freilich oft nur ein Zufall sein kann, setzen
wir beschränkend hinzu.

Für den Standpunkt, den wir hier vertreten, ist es aber noch viel mehr
und zwar auch wieder vorzugsweise da, wo der Verfasser frei, aus lebendiger
Erinnerung, ohne das Gängelband seiner geschriebenen Meister und Vor¬
gänger erzählt. Hier hört man zum ersten Male einen wirklichen Naturlaut,
Worte, die nichts anderes bedeuten sollen, als was sie in der Sprache der
Zeit bedeuten, kurz, man hört zum ersten Male die Muse der Geschichte
deutsch reden und man begreift, daß nachdem dieser unermeßliche Wurf ein¬
mal gelungen war und zwar wieder um vieles besser als man nach der Schwie¬
rigkeit des ersten Versuches hätte billig erwarten dürfen, er von manchem
andern mit demselben Erfolge wiederholt worden, daß sich ein ganzes Ge¬
schlecht von Geschichtschreibern in deutscher Sprache danach, wenn auch keines¬
wegs unmittelbar daraus bilden mußte.

Wohl erhielt sich auch dann noch und für die ganze folgende Periode
das altherkömmliche Latein, aber auf der einen Seite von den deutschen
Reimchroniken, auf der andern von der deutschen historischen Prosa unwill¬
kürlich mehr und mehr eingeengt, mußte es sich nun selbst da, wo es sich
noch behauptete, ganz anders nach den Forderungen des Volksgeistes modeln,
als vorher. Die selbstgenugsame Exclusivität der Geschichtschreibung des
früheren Mittelalters war gebrochen. Geschichte wurde jetzt nicht mehr ge-


Grmzbotm II. 1871. 48

rigkeiten für den modernen Erklärer darin enthalten sein mag, und dessen ist nicht
wenig, das war für den gleichzeitigen Leser nicht vorhanden. Er verstand und
empfand jedes Wort: wir, denen so viel thatsächliche Voraussetzungen abgehen,
die den Zeitgenossen angeboren waren, müssen freilich oft genug straucheln,
aber nicht öfter wie in jedem Geisteserzeugnisse solcher Art, das durch einen
sechshundertjährigen Raum von uns getrennt ist.

Alle Borzüge des Sachsenspiegels gebühren aber auch der Sächsischen
Kaiserchronik, sobald man nur die Subjectivität des modernen wissenschaft¬
lichen Bewußtseins nicht als Maßstab anlegt. Denn dieses wird leicht heraus¬
finden, daß ihr Verfasser ebenso unkritisch compilirte wie jeder andere in seiner
Zeit, der Geschichte schrieb und, setzen wir hinzu, wie es alle anderen Histori¬
ker, auch die mit den gelehrtesten Amtsmienen bis zu der neuesten Phase der
methodischen Quellenforschung und Kritik gethan haben. Der Historiker findet
darum auch hier so wenig wie in der gereimten Kaiserchronik „brauchbares
Material", so weit der Verfasser eben bloß andere bekannte und unbekannte
ältere Bücher abschreibt und auszieht. Aber da, wo er erzählt, was er selbst
als Zeitgenosse weniger gethan als gehört hat, da pflegt auch die moderne
Forschung ihm eine gewisse Anerkennung nicht zu versagen. Da ist das Buch
„eine ziemlich zuverlässige und oft sehr ergiebige Quelle" von Nachrichten, die
aus keiner andern zufließen, was freilich oft nur ein Zufall sein kann, setzen
wir beschränkend hinzu.

Für den Standpunkt, den wir hier vertreten, ist es aber noch viel mehr
und zwar auch wieder vorzugsweise da, wo der Verfasser frei, aus lebendiger
Erinnerung, ohne das Gängelband seiner geschriebenen Meister und Vor¬
gänger erzählt. Hier hört man zum ersten Male einen wirklichen Naturlaut,
Worte, die nichts anderes bedeuten sollen, als was sie in der Sprache der
Zeit bedeuten, kurz, man hört zum ersten Male die Muse der Geschichte
deutsch reden und man begreift, daß nachdem dieser unermeßliche Wurf ein¬
mal gelungen war und zwar wieder um vieles besser als man nach der Schwie¬
rigkeit des ersten Versuches hätte billig erwarten dürfen, er von manchem
andern mit demselben Erfolge wiederholt worden, daß sich ein ganzes Ge¬
schlecht von Geschichtschreibern in deutscher Sprache danach, wenn auch keines¬
wegs unmittelbar daraus bilden mußte.

Wohl erhielt sich auch dann noch und für die ganze folgende Periode
das altherkömmliche Latein, aber auf der einen Seite von den deutschen
Reimchroniken, auf der andern von der deutschen historischen Prosa unwill¬
kürlich mehr und mehr eingeengt, mußte es sich nun selbst da, wo es sich
noch behauptete, ganz anders nach den Forderungen des Volksgeistes modeln,
als vorher. Die selbstgenugsame Exclusivität der Geschichtschreibung des
früheren Mittelalters war gebrochen. Geschichte wurde jetzt nicht mehr ge-


Grmzbotm II. 1871. 48
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[0385] rigkeiten für den modernen Erklärer darin enthalten sein mag, und dessen ist nicht wenig, das war für den gleichzeitigen Leser nicht vorhanden. Er verstand und empfand jedes Wort: wir, denen so viel thatsächliche Voraussetzungen abgehen, die den Zeitgenossen angeboren waren, müssen freilich oft genug straucheln, aber nicht öfter wie in jedem Geisteserzeugnisse solcher Art, das durch einen sechshundertjährigen Raum von uns getrennt ist. Alle Borzüge des Sachsenspiegels gebühren aber auch der Sächsischen Kaiserchronik, sobald man nur die Subjectivität des modernen wissenschaft¬ lichen Bewußtseins nicht als Maßstab anlegt. Denn dieses wird leicht heraus¬ finden, daß ihr Verfasser ebenso unkritisch compilirte wie jeder andere in seiner Zeit, der Geschichte schrieb und, setzen wir hinzu, wie es alle anderen Histori¬ ker, auch die mit den gelehrtesten Amtsmienen bis zu der neuesten Phase der methodischen Quellenforschung und Kritik gethan haben. Der Historiker findet darum auch hier so wenig wie in der gereimten Kaiserchronik „brauchbares Material", so weit der Verfasser eben bloß andere bekannte und unbekannte ältere Bücher abschreibt und auszieht. Aber da, wo er erzählt, was er selbst als Zeitgenosse weniger gethan als gehört hat, da pflegt auch die moderne Forschung ihm eine gewisse Anerkennung nicht zu versagen. Da ist das Buch „eine ziemlich zuverlässige und oft sehr ergiebige Quelle" von Nachrichten, die aus keiner andern zufließen, was freilich oft nur ein Zufall sein kann, setzen wir beschränkend hinzu. Für den Standpunkt, den wir hier vertreten, ist es aber noch viel mehr und zwar auch wieder vorzugsweise da, wo der Verfasser frei, aus lebendiger Erinnerung, ohne das Gängelband seiner geschriebenen Meister und Vor¬ gänger erzählt. Hier hört man zum ersten Male einen wirklichen Naturlaut, Worte, die nichts anderes bedeuten sollen, als was sie in der Sprache der Zeit bedeuten, kurz, man hört zum ersten Male die Muse der Geschichte deutsch reden und man begreift, daß nachdem dieser unermeßliche Wurf ein¬ mal gelungen war und zwar wieder um vieles besser als man nach der Schwie¬ rigkeit des ersten Versuches hätte billig erwarten dürfen, er von manchem andern mit demselben Erfolge wiederholt worden, daß sich ein ganzes Ge¬ schlecht von Geschichtschreibern in deutscher Sprache danach, wenn auch keines¬ wegs unmittelbar daraus bilden mußte. Wohl erhielt sich auch dann noch und für die ganze folgende Periode das altherkömmliche Latein, aber auf der einen Seite von den deutschen Reimchroniken, auf der andern von der deutschen historischen Prosa unwill¬ kürlich mehr und mehr eingeengt, mußte es sich nun selbst da, wo es sich noch behauptete, ganz anders nach den Forderungen des Volksgeistes modeln, als vorher. Die selbstgenugsame Exclusivität der Geschichtschreibung des früheren Mittelalters war gebrochen. Geschichte wurde jetzt nicht mehr ge- Grmzbotm II. 1871. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/385>, abgerufen am 24.07.2024.