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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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deutsche Reich (Baden hatte bereits vor dem Krieg seinen Militärstand auf
den jetzigen Fuß gesetzt und konnte dennoch seine Steuern herabsetzen)
war diese Eventualität schon lange vorauszusagen, wenn man den jährlich
sich mindernden Gesammtertrag der Eisenbahnen mit den Summen verglich,
welche die Verzinsung der Eisenbahnschuld erfordert und die Steuerzahler zu
decken haben. Wir haben in einem früheren Brief gezeigt, wie eng die Eisen¬
bahnpolitik mit dem Regierungssystem der letzten Jahre, mit der Wirthschaft
"von der Hand in den Mund" zusammenhing, welche, um sich nothdürftig
die Majorität der Ständekammer zu sichern, dieses Mittels der Stimmenge¬
winnung nicht entbehren konnte. Ja noch mehr! Man lebte trotz aller gro߬
deutschen Belleitäten bis zum vorigen Juli in dem festen Glauben, daß Württem¬
berg die nächste Krise als selbständiger Staat nicht überstehen werde und sprach
ziemlich offen aus. daß man in erster Linie dafür sorgen müsse, beim Ein¬
tritt der Katastrophe, welche man von dem nächsten französischen Krieg er¬
wartete, die schwäbischen Sonderinteressen möglichst zu wahren. Baue man
auch ertragslose Bahnen, so räsonnirte man, so gehen ja die Staatsschulden
aus Preußen über, während die Bahnen den Gegenden verbleiben, in welchen
sie jetzt, und sonst voraussichtlich nie gebaut würden.

Inzwischen hatte man das große Publicum mit Hilfe der demokratischen
und großdeutschen Presse und Parteiagitation über den wahren Grund des
steigenden Deficits im Dunkeln zu halten gewußt, indem man die ganze
Schuld an der bedenklichen Finanzlage dem Militarismus und der Berpreußung
in die Schuhe schob. Zum Unglück für unsere Finanzkünstler hat nun aber
Württemberg auch nach dem Krieg seine staatliche Selbständigkeit bewahrt
und das Land hat seine Schulden auch fernerhin allein zu tragen. Nach der
neuesten Darstellung des Ministeriums der Verkehrsanstalten beläuft sich das
durch Steuern zu deckende Deficit der Eisenbahnen jährlich auf ungefähr
3 Millionen Gulden und dasselbe wird sich mit der Vollendung der gegen¬
wärtig im Bau begriffenen völlig aussichtslosen Bahnen noch bedeutend er¬
höhen. Dabei kann Niemand die Ertragsberechnungen der Regierung, welche
auf wesentlich andern Grundlagen beruhen, als bei einer Privatbahn, irgend
wie controliren: wenigstens haben die ständischen Berichterstatter über den
Etat der Eisenbahnverwaltung die Unmöglichkeit, aus dem vorgelegten Ma¬
terial einen sicheren Einblick zu gewinnen, schon wiederholt constatirt. Da
überdieß der Staat seit Jahren mit dem Bahnbau nie aufgehört hat, so
stehen dem Verkehrsminister Mittel der verschiedensten Art zu Gebot, um
einen möglichst günstigen Ertrag der bereits vollendeten Bahnen herauszu¬
rechnen, wie z. B. durch die Verwendung des Betriebsmaterials der neuen
Bahnen auf den alten, und ähnliche Vortheile. Eine zuverlässige Ertrags¬
berechnung ist daher jedenfalls in so lange nicht zu erwarten, als der Staats-


deutsche Reich (Baden hatte bereits vor dem Krieg seinen Militärstand auf
den jetzigen Fuß gesetzt und konnte dennoch seine Steuern herabsetzen)
war diese Eventualität schon lange vorauszusagen, wenn man den jährlich
sich mindernden Gesammtertrag der Eisenbahnen mit den Summen verglich,
welche die Verzinsung der Eisenbahnschuld erfordert und die Steuerzahler zu
decken haben. Wir haben in einem früheren Brief gezeigt, wie eng die Eisen¬
bahnpolitik mit dem Regierungssystem der letzten Jahre, mit der Wirthschaft
„von der Hand in den Mund" zusammenhing, welche, um sich nothdürftig
die Majorität der Ständekammer zu sichern, dieses Mittels der Stimmenge¬
winnung nicht entbehren konnte. Ja noch mehr! Man lebte trotz aller gro߬
deutschen Belleitäten bis zum vorigen Juli in dem festen Glauben, daß Württem¬
berg die nächste Krise als selbständiger Staat nicht überstehen werde und sprach
ziemlich offen aus. daß man in erster Linie dafür sorgen müsse, beim Ein¬
tritt der Katastrophe, welche man von dem nächsten französischen Krieg er¬
wartete, die schwäbischen Sonderinteressen möglichst zu wahren. Baue man
auch ertragslose Bahnen, so räsonnirte man, so gehen ja die Staatsschulden
aus Preußen über, während die Bahnen den Gegenden verbleiben, in welchen
sie jetzt, und sonst voraussichtlich nie gebaut würden.

Inzwischen hatte man das große Publicum mit Hilfe der demokratischen
und großdeutschen Presse und Parteiagitation über den wahren Grund des
steigenden Deficits im Dunkeln zu halten gewußt, indem man die ganze
Schuld an der bedenklichen Finanzlage dem Militarismus und der Berpreußung
in die Schuhe schob. Zum Unglück für unsere Finanzkünstler hat nun aber
Württemberg auch nach dem Krieg seine staatliche Selbständigkeit bewahrt
und das Land hat seine Schulden auch fernerhin allein zu tragen. Nach der
neuesten Darstellung des Ministeriums der Verkehrsanstalten beläuft sich das
durch Steuern zu deckende Deficit der Eisenbahnen jährlich auf ungefähr
3 Millionen Gulden und dasselbe wird sich mit der Vollendung der gegen¬
wärtig im Bau begriffenen völlig aussichtslosen Bahnen noch bedeutend er¬
höhen. Dabei kann Niemand die Ertragsberechnungen der Regierung, welche
auf wesentlich andern Grundlagen beruhen, als bei einer Privatbahn, irgend
wie controliren: wenigstens haben die ständischen Berichterstatter über den
Etat der Eisenbahnverwaltung die Unmöglichkeit, aus dem vorgelegten Ma¬
terial einen sicheren Einblick zu gewinnen, schon wiederholt constatirt. Da
überdieß der Staat seit Jahren mit dem Bahnbau nie aufgehört hat, so
stehen dem Verkehrsminister Mittel der verschiedensten Art zu Gebot, um
einen möglichst günstigen Ertrag der bereits vollendeten Bahnen herauszu¬
rechnen, wie z. B. durch die Verwendung des Betriebsmaterials der neuen
Bahnen auf den alten, und ähnliche Vortheile. Eine zuverlässige Ertrags¬
berechnung ist daher jedenfalls in so lange nicht zu erwarten, als der Staats-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/38>, abgerufen am 24.07.2024.