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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Theil auf die Chroniken, Annalen, Biographien und in welcher Form sonst
noch der Darstellungstrieb der Zeit sich äußern mochte, stützen. Nur zur
Ergänzung kann in einzelnen Fällen urkundliches Material im eigentlichen
Wortsinn herangezogen werden, Privat- und Geschäftsbriefe einflußreicher
Persönlichkeiten, vertrauliche Aufzeichnungen zu eigenem Gebrauche, Staats¬
schriften und Deduktionen, geschäftliche Verhandlungen und Acten nebst den
eigentlichen Urkunden von öffentlichem Charakter. Aber von der bezeichneten
Epoche an dreht sich das Verhältniß um. Der eigentliche historische Forscher
pflegt zu sagen: Die Urkunden werden von dieser Zeit an um so ergiebiger
und brauchbarer, als die eigentliche Geschichtschreibung sich immer gehaltloser
und unbrauchbarer erweist, und von seinem Standpunkte aus ist er zu solchem
Urtheile vollkommen berechtigt, obgleich es, wie sich noch zeigen wird, einen
andern Standpunkt giebt, aus welchem sich das Bild dieser spätmittelalter¬
lichen Geschichtschreibung doch ganz anders ausnimmt. Aber es läßt sich be¬
greifen, daß ein Mann der strengen Schule nicht sehr geneigt sein wird, seine
volle Arbeitskraft für einen Stoff einzusetzen, dem er nur geringe Ergiebigkeit
zuzutrauen geneigt ist, dem er von vornherein nicht Vorurtheile, sondern eine
in seinem Kreise wohlberechtigte Mißachtung entgegen bringen wird. Wer
anders aber als ein solcher dürfte sich zutrauen, den Ariadnefaden zu finden
und mit fester Hand und scharfem Auge zu handhaben, der ihn aus diesem
Labyrinthe voll der größten Confusion glücklich an das Tageslicht führen
könnte? Ein Literar- oder Culturhistoriker gewöhnlicher Art, der sich mehr
oder minder schon auf die Vorarbeiten der eigentlichen historischen Kritik
stützen muß und sein Material als unmittelbar zu seinen Bauzwecken brauch¬
bar verwenden will, könnte sich hier noch weniger herausfinden.

Wenn nun doch ein Historiker von anerkannter Tüchtigkeit sich wenig¬
stens eines Theiles dieser in so vieler Beziehung undankbaren Aufgabe ange¬
nommen hat, wie es von O. Lorenz vor Kurzem geschehen ist, so gebührt
ihm nicht bloß wegen des leidigen in magnis v"Juif"s sat est, ein kahles
und konventionelles Lob, sondern eine warme und freudige Anerkennung so¬
wohl für die treffliche Lösung seiner Aufgabe, als auch, weil damit einmal
Bahn gebrochen ist in ein Gebiet, das, so dornicht und steril es auch sein
mag, doch noch viel übeler berufen ist als es verdient. Lorenz hat bekannt¬
lich als Geschichtsforscher und Geschichtschreiber die Periode des Interregnum
und was ihr vorhergeht und sich an sie anschließt, zu dem Hauptobject seiner
bisherigen Thätigkeit gemacht und von hier >aus lag ihm allerdings auch die
Aufgabe, die er sich in seinem neuesten Buche über die Geschichtsquellen im
späteren Mittelalter gesteckt, näher als irgend einem andern. Eben deßhalb
begreift sich aber auch, weshalb er sich selbst mit dem Ende des 14. Jahr¬
hunderts ein, wie wir hoffen, nur vorläufiges Ziel gesetzt hat. Denn eine


Theil auf die Chroniken, Annalen, Biographien und in welcher Form sonst
noch der Darstellungstrieb der Zeit sich äußern mochte, stützen. Nur zur
Ergänzung kann in einzelnen Fällen urkundliches Material im eigentlichen
Wortsinn herangezogen werden, Privat- und Geschäftsbriefe einflußreicher
Persönlichkeiten, vertrauliche Aufzeichnungen zu eigenem Gebrauche, Staats¬
schriften und Deduktionen, geschäftliche Verhandlungen und Acten nebst den
eigentlichen Urkunden von öffentlichem Charakter. Aber von der bezeichneten
Epoche an dreht sich das Verhältniß um. Der eigentliche historische Forscher
pflegt zu sagen: Die Urkunden werden von dieser Zeit an um so ergiebiger
und brauchbarer, als die eigentliche Geschichtschreibung sich immer gehaltloser
und unbrauchbarer erweist, und von seinem Standpunkte aus ist er zu solchem
Urtheile vollkommen berechtigt, obgleich es, wie sich noch zeigen wird, einen
andern Standpunkt giebt, aus welchem sich das Bild dieser spätmittelalter¬
lichen Geschichtschreibung doch ganz anders ausnimmt. Aber es läßt sich be¬
greifen, daß ein Mann der strengen Schule nicht sehr geneigt sein wird, seine
volle Arbeitskraft für einen Stoff einzusetzen, dem er nur geringe Ergiebigkeit
zuzutrauen geneigt ist, dem er von vornherein nicht Vorurtheile, sondern eine
in seinem Kreise wohlberechtigte Mißachtung entgegen bringen wird. Wer
anders aber als ein solcher dürfte sich zutrauen, den Ariadnefaden zu finden
und mit fester Hand und scharfem Auge zu handhaben, der ihn aus diesem
Labyrinthe voll der größten Confusion glücklich an das Tageslicht führen
könnte? Ein Literar- oder Culturhistoriker gewöhnlicher Art, der sich mehr
oder minder schon auf die Vorarbeiten der eigentlichen historischen Kritik
stützen muß und sein Material als unmittelbar zu seinen Bauzwecken brauch¬
bar verwenden will, könnte sich hier noch weniger herausfinden.

Wenn nun doch ein Historiker von anerkannter Tüchtigkeit sich wenig¬
stens eines Theiles dieser in so vieler Beziehung undankbaren Aufgabe ange¬
nommen hat, wie es von O. Lorenz vor Kurzem geschehen ist, so gebührt
ihm nicht bloß wegen des leidigen in magnis v«Juif»s sat est, ein kahles
und konventionelles Lob, sondern eine warme und freudige Anerkennung so¬
wohl für die treffliche Lösung seiner Aufgabe, als auch, weil damit einmal
Bahn gebrochen ist in ein Gebiet, das, so dornicht und steril es auch sein
mag, doch noch viel übeler berufen ist als es verdient. Lorenz hat bekannt¬
lich als Geschichtsforscher und Geschichtschreiber die Periode des Interregnum
und was ihr vorhergeht und sich an sie anschließt, zu dem Hauptobject seiner
bisherigen Thätigkeit gemacht und von hier >aus lag ihm allerdings auch die
Aufgabe, die er sich in seinem neuesten Buche über die Geschichtsquellen im
späteren Mittelalter gesteckt, näher als irgend einem andern. Eben deßhalb
begreift sich aber auch, weshalb er sich selbst mit dem Ende des 14. Jahr¬
hunderts ein, wie wir hoffen, nur vorläufiges Ziel gesetzt hat. Denn eine


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[0374] Theil auf die Chroniken, Annalen, Biographien und in welcher Form sonst noch der Darstellungstrieb der Zeit sich äußern mochte, stützen. Nur zur Ergänzung kann in einzelnen Fällen urkundliches Material im eigentlichen Wortsinn herangezogen werden, Privat- und Geschäftsbriefe einflußreicher Persönlichkeiten, vertrauliche Aufzeichnungen zu eigenem Gebrauche, Staats¬ schriften und Deduktionen, geschäftliche Verhandlungen und Acten nebst den eigentlichen Urkunden von öffentlichem Charakter. Aber von der bezeichneten Epoche an dreht sich das Verhältniß um. Der eigentliche historische Forscher pflegt zu sagen: Die Urkunden werden von dieser Zeit an um so ergiebiger und brauchbarer, als die eigentliche Geschichtschreibung sich immer gehaltloser und unbrauchbarer erweist, und von seinem Standpunkte aus ist er zu solchem Urtheile vollkommen berechtigt, obgleich es, wie sich noch zeigen wird, einen andern Standpunkt giebt, aus welchem sich das Bild dieser spätmittelalter¬ lichen Geschichtschreibung doch ganz anders ausnimmt. Aber es läßt sich be¬ greifen, daß ein Mann der strengen Schule nicht sehr geneigt sein wird, seine volle Arbeitskraft für einen Stoff einzusetzen, dem er nur geringe Ergiebigkeit zuzutrauen geneigt ist, dem er von vornherein nicht Vorurtheile, sondern eine in seinem Kreise wohlberechtigte Mißachtung entgegen bringen wird. Wer anders aber als ein solcher dürfte sich zutrauen, den Ariadnefaden zu finden und mit fester Hand und scharfem Auge zu handhaben, der ihn aus diesem Labyrinthe voll der größten Confusion glücklich an das Tageslicht führen könnte? Ein Literar- oder Culturhistoriker gewöhnlicher Art, der sich mehr oder minder schon auf die Vorarbeiten der eigentlichen historischen Kritik stützen muß und sein Material als unmittelbar zu seinen Bauzwecken brauch¬ bar verwenden will, könnte sich hier noch weniger herausfinden. Wenn nun doch ein Historiker von anerkannter Tüchtigkeit sich wenig¬ stens eines Theiles dieser in so vieler Beziehung undankbaren Aufgabe ange¬ nommen hat, wie es von O. Lorenz vor Kurzem geschehen ist, so gebührt ihm nicht bloß wegen des leidigen in magnis v«Juif»s sat est, ein kahles und konventionelles Lob, sondern eine warme und freudige Anerkennung so¬ wohl für die treffliche Lösung seiner Aufgabe, als auch, weil damit einmal Bahn gebrochen ist in ein Gebiet, das, so dornicht und steril es auch sein mag, doch noch viel übeler berufen ist als es verdient. Lorenz hat bekannt¬ lich als Geschichtsforscher und Geschichtschreiber die Periode des Interregnum und was ihr vorhergeht und sich an sie anschließt, zu dem Hauptobject seiner bisherigen Thätigkeit gemacht und von hier >aus lag ihm allerdings auch die Aufgabe, die er sich in seinem neuesten Buche über die Geschichtsquellen im späteren Mittelalter gesteckt, näher als irgend einem andern. Eben deßhalb begreift sich aber auch, weshalb er sich selbst mit dem Ende des 14. Jahr¬ hunderts ein, wie wir hoffen, nur vorläufiges Ziel gesetzt hat. Denn eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/374>, abgerufen am 25.07.2024.