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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Geschichte bekundet, blieb jenen Werken des älteren Typus, den Reimchroniken,
den Stadt- und Landesgeschichten, erbaulichen Biographien u. dergl. noch auf
lange hinaus allein zugethan, ja man darf wohl behaupten, so lange es in
unserm Vaterlande überhaupt ein wirkliches Publicum für die Geschicht¬
schreibung und nicht bloß einzelne gebildete Leser gegeben hat, ist es dieser
Richtung treu und sonach wenigstens mit einem Fuße noch im Mittelalter
stehen geblieben. Denn Bücher wie des Beatus Rhenanus deutsche Ge¬
schichte von 1330, oder des Johann Sleidanus Commentarien über den Zu¬
stand des Staates und der Kirche unter Carl V. wurden zwar von den Ge¬
lehrten höchlichst gepriesen, wie sie das auch in mehr als einer Hinsicht ver¬
dienten, aber sie drangen nicht über den Kreis der Zunftverwandten hinüber
in das eigentliche Volk oder in die damals so unendlich zahlreiche Masse der¬
jenigen, die in allen Stücken noch ihre engste Zugehörigkeit zu der elemen¬
taren Schicht des Volkslebens fühlten, aber dabei doch Belehrung aus Büchern
aller Art zu ihren nothwendigen Lebensbedürfnissen rechneten. Für solche
Leser gab es wohl auch allmählig eine Brücke, die von der populären Nai¬
vetät der ältern Zeit vor dem Eindringen der classischen Erudition in die
Historiographie zu dieser hinüber führte: ein Aventin, ein Cyriak Spangen¬
berg verstanden sie mit großem Geschicke und Erfolge zu schlagen. Aber
prüft man ihre Construction etwas genauer, so war es doch nur ein aus
tumultuarisch zusammengerafften Materialien hergestellter Nothbau, der
darum auch keine Dauer haben und weder dem volkstümlichen Geschmack
noch den Ansprüchen der mehr und mehr sich ihrer Aufgabe bewußt werdenden
wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung genügen konnte.

Wer die Historiographie seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zu
ihrem natürlichen Abschluß darstellen wollte, müßte also nach dem Ebenge¬
sagten weit über die gewöhnlich angenommene Grenze des Mittelalters sich
ausdehnen. Daß mit der in rapider Progression wachsenden Masse des
Stoffes auch alle andern innern und äußeren Schwierigkeiten in gleichem
Verhältniß wachsen und einem solchen Unternehmen wenigstens für die Kraft
eines Einzelnen unübersteigliche Schranken entgegensetzen würden, läßt sich
denken. Auch steht der Gewinn, der für die Wissenschaft innerhalb ihres
engeren Kreises daraus hervorgehen könnte, in keinem irgend erträglichen
Verhältniß zu den erforderlichen Anstrengungen. Denn je näher an die
Gegenwart heran, desto geringer ist die eigentliche Ausbeute an Wissen in
dieser breitspurigen Literatur. Es verhielte sich sehr übel mit unserer heuti¬
gen Kenntniß des Is. und 16. Jahrhunderts, wenn wir allein oder haupt¬
sächlich auf die Leute angewiesen wären, denen es einfiel, uns die Begeben¬
heiten dieser Zeit zu überliefern. Auch hierfür bildet die Mitte des 13. Jahrh,
einen gewaltigen Einschnitt. Vorher müssen wir uns zum überwiegenden


Geschichte bekundet, blieb jenen Werken des älteren Typus, den Reimchroniken,
den Stadt- und Landesgeschichten, erbaulichen Biographien u. dergl. noch auf
lange hinaus allein zugethan, ja man darf wohl behaupten, so lange es in
unserm Vaterlande überhaupt ein wirkliches Publicum für die Geschicht¬
schreibung und nicht bloß einzelne gebildete Leser gegeben hat, ist es dieser
Richtung treu und sonach wenigstens mit einem Fuße noch im Mittelalter
stehen geblieben. Denn Bücher wie des Beatus Rhenanus deutsche Ge¬
schichte von 1330, oder des Johann Sleidanus Commentarien über den Zu¬
stand des Staates und der Kirche unter Carl V. wurden zwar von den Ge¬
lehrten höchlichst gepriesen, wie sie das auch in mehr als einer Hinsicht ver¬
dienten, aber sie drangen nicht über den Kreis der Zunftverwandten hinüber
in das eigentliche Volk oder in die damals so unendlich zahlreiche Masse der¬
jenigen, die in allen Stücken noch ihre engste Zugehörigkeit zu der elemen¬
taren Schicht des Volkslebens fühlten, aber dabei doch Belehrung aus Büchern
aller Art zu ihren nothwendigen Lebensbedürfnissen rechneten. Für solche
Leser gab es wohl auch allmählig eine Brücke, die von der populären Nai¬
vetät der ältern Zeit vor dem Eindringen der classischen Erudition in die
Historiographie zu dieser hinüber führte: ein Aventin, ein Cyriak Spangen¬
berg verstanden sie mit großem Geschicke und Erfolge zu schlagen. Aber
prüft man ihre Construction etwas genauer, so war es doch nur ein aus
tumultuarisch zusammengerafften Materialien hergestellter Nothbau, der
darum auch keine Dauer haben und weder dem volkstümlichen Geschmack
noch den Ansprüchen der mehr und mehr sich ihrer Aufgabe bewußt werdenden
wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung genügen konnte.

Wer die Historiographie seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zu
ihrem natürlichen Abschluß darstellen wollte, müßte also nach dem Ebenge¬
sagten weit über die gewöhnlich angenommene Grenze des Mittelalters sich
ausdehnen. Daß mit der in rapider Progression wachsenden Masse des
Stoffes auch alle andern innern und äußeren Schwierigkeiten in gleichem
Verhältniß wachsen und einem solchen Unternehmen wenigstens für die Kraft
eines Einzelnen unübersteigliche Schranken entgegensetzen würden, läßt sich
denken. Auch steht der Gewinn, der für die Wissenschaft innerhalb ihres
engeren Kreises daraus hervorgehen könnte, in keinem irgend erträglichen
Verhältniß zu den erforderlichen Anstrengungen. Denn je näher an die
Gegenwart heran, desto geringer ist die eigentliche Ausbeute an Wissen in
dieser breitspurigen Literatur. Es verhielte sich sehr übel mit unserer heuti¬
gen Kenntniß des Is. und 16. Jahrhunderts, wenn wir allein oder haupt¬
sächlich auf die Leute angewiesen wären, denen es einfiel, uns die Begeben¬
heiten dieser Zeit zu überliefern. Auch hierfür bildet die Mitte des 13. Jahrh,
einen gewaltigen Einschnitt. Vorher müssen wir uns zum überwiegenden


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[0373] Geschichte bekundet, blieb jenen Werken des älteren Typus, den Reimchroniken, den Stadt- und Landesgeschichten, erbaulichen Biographien u. dergl. noch auf lange hinaus allein zugethan, ja man darf wohl behaupten, so lange es in unserm Vaterlande überhaupt ein wirkliches Publicum für die Geschicht¬ schreibung und nicht bloß einzelne gebildete Leser gegeben hat, ist es dieser Richtung treu und sonach wenigstens mit einem Fuße noch im Mittelalter stehen geblieben. Denn Bücher wie des Beatus Rhenanus deutsche Ge¬ schichte von 1330, oder des Johann Sleidanus Commentarien über den Zu¬ stand des Staates und der Kirche unter Carl V. wurden zwar von den Ge¬ lehrten höchlichst gepriesen, wie sie das auch in mehr als einer Hinsicht ver¬ dienten, aber sie drangen nicht über den Kreis der Zunftverwandten hinüber in das eigentliche Volk oder in die damals so unendlich zahlreiche Masse der¬ jenigen, die in allen Stücken noch ihre engste Zugehörigkeit zu der elemen¬ taren Schicht des Volkslebens fühlten, aber dabei doch Belehrung aus Büchern aller Art zu ihren nothwendigen Lebensbedürfnissen rechneten. Für solche Leser gab es wohl auch allmählig eine Brücke, die von der populären Nai¬ vetät der ältern Zeit vor dem Eindringen der classischen Erudition in die Historiographie zu dieser hinüber führte: ein Aventin, ein Cyriak Spangen¬ berg verstanden sie mit großem Geschicke und Erfolge zu schlagen. Aber prüft man ihre Construction etwas genauer, so war es doch nur ein aus tumultuarisch zusammengerafften Materialien hergestellter Nothbau, der darum auch keine Dauer haben und weder dem volkstümlichen Geschmack noch den Ansprüchen der mehr und mehr sich ihrer Aufgabe bewußt werdenden wissenschaftlichen Geschichtsdarstellung genügen konnte. Wer die Historiographie seit der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zu ihrem natürlichen Abschluß darstellen wollte, müßte also nach dem Ebenge¬ sagten weit über die gewöhnlich angenommene Grenze des Mittelalters sich ausdehnen. Daß mit der in rapider Progression wachsenden Masse des Stoffes auch alle andern innern und äußeren Schwierigkeiten in gleichem Verhältniß wachsen und einem solchen Unternehmen wenigstens für die Kraft eines Einzelnen unübersteigliche Schranken entgegensetzen würden, läßt sich denken. Auch steht der Gewinn, der für die Wissenschaft innerhalb ihres engeren Kreises daraus hervorgehen könnte, in keinem irgend erträglichen Verhältniß zu den erforderlichen Anstrengungen. Denn je näher an die Gegenwart heran, desto geringer ist die eigentliche Ausbeute an Wissen in dieser breitspurigen Literatur. Es verhielte sich sehr übel mit unserer heuti¬ gen Kenntniß des Is. und 16. Jahrhunderts, wenn wir allein oder haupt¬ sächlich auf die Leute angewiesen wären, denen es einfiel, uns die Begeben¬ heiten dieser Zeit zu überliefern. Auch hierfür bildet die Mitte des 13. Jahrh, einen gewaltigen Einschnitt. Vorher müssen wir uns zum überwiegenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/373>, abgerufen am 25.07.2024.