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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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wirkliche Grenze, der Schluß einer bisherigen Entwickelungsreihe unserer Hi¬
storiographie und der Anfang einer neuen ist an dieser Stelle nicht zu finden,
das hat sich schon gezeigt.

Ein Historiker wird freilich anders über die Bedeutung dieser Zeitgrenze
urtheilen, wenn er auf den Inhalt der Geschichte und nicht bloß auf die
Form ihrer Ueberlieferung Rücksicht nimmt. Keine Frage, daß mit den
großen Concilien und den Hussitenkriegen eine wesentlich neue Epoche der
deutschen Geschichte beginnt, deren Bereich von da an das ganze 15, Jahrh,
umfaßt, oder bis zur Reformation, wenn man für die zeitliche Marke eine
sachliche setzen wollte. Aber von einem veränderten Typus der Geschichtschrei¬
bung während des 13. Jahrhunderts ist nichts wahrzunehmen, oder höchstens
nur insoweit, als alle jene wesentlichen Charakterzüge, die dem ganzen Nach¬
mittelalter und bis tief in die Neuzeit eigenthümlich sind, mit dem Fortschritt
der Jahre immer deutlicher heraustreten. Die Physiognomie wird begreiflich
je älter desto markirter, die Züge selbst bleiben aber die alten. Der Quellen¬
werth im Sinne der exacten Geschichtsforschung wird natürlich immer gerin¬
ger, denn von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der eigentlichen Urkunden, aus
denen sich eine ganz andere objective Grundlage des Thatsächlichen gewinnen
läßt, wie aus den von vornherein subjectiv gefärbten Geschichtschreibern. In
dieser Hinsicht müssen also die historiographischen Erzeugnisse des 14. Jahrh,
denen des 15. an sich und im Allgemeinen überlegen sein, gleichviel wie sich
das Werthverhältniß im einzelnen Falle herausstellt und eben deshalb bieten
jene dem eigentlichen Forscher an sich einen größeren Reiz als diese. Nur
handelt es sich immer bloß um ein Mehr oder Minder, ein Heller oder Dunk¬
ler innerhalb derselben Hauptfarbe, nicht um einen wirklichen Farben¬
unterschied.

Das Buch von Lorenz behandelt Deutschlands Geschichtsquellen, treibt
also schon auf dem Titel den Standpunkt der praktischen Benutzbarkeit für
die moderne Wissenschaft entschieden und mit Bewußtsein heraus. Auch
Wattenbachs Buch führt diese Bezeichnung, wie es denn selbstverständlich und
nach dem ausdrücklichen Bekenntniß und Wunsche des Verfassers des jüngeren
Buches als dessen unmittelbares Vorbild und Muster anzusehen ist. In
erster Linie handelt es sich also überall, die kritischen Principien festzustellen,
welche für die Verwendung des in diesem oder jenem Geschichtschreiber oder
Geschichtswerke der Zeit enthaltenen historischen Materials nach den Grund¬
sätzen der heutigen Wissenschaft, der neuen deutschen historischen Schule ma߬
gebend sind. Doch handelt es sich nicht ausschließlich darum.

Schon Wattenbach hat die Geschichtschreiber des früheren Mittelalters
nicht bloß in Hinsicht auf die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung, sondern auch
in Hinsicht aus die Komposition des von ihnen Erzählten und die von ihnen


wirkliche Grenze, der Schluß einer bisherigen Entwickelungsreihe unserer Hi¬
storiographie und der Anfang einer neuen ist an dieser Stelle nicht zu finden,
das hat sich schon gezeigt.

Ein Historiker wird freilich anders über die Bedeutung dieser Zeitgrenze
urtheilen, wenn er auf den Inhalt der Geschichte und nicht bloß auf die
Form ihrer Ueberlieferung Rücksicht nimmt. Keine Frage, daß mit den
großen Concilien und den Hussitenkriegen eine wesentlich neue Epoche der
deutschen Geschichte beginnt, deren Bereich von da an das ganze 15, Jahrh,
umfaßt, oder bis zur Reformation, wenn man für die zeitliche Marke eine
sachliche setzen wollte. Aber von einem veränderten Typus der Geschichtschrei¬
bung während des 13. Jahrhunderts ist nichts wahrzunehmen, oder höchstens
nur insoweit, als alle jene wesentlichen Charakterzüge, die dem ganzen Nach¬
mittelalter und bis tief in die Neuzeit eigenthümlich sind, mit dem Fortschritt
der Jahre immer deutlicher heraustreten. Die Physiognomie wird begreiflich
je älter desto markirter, die Züge selbst bleiben aber die alten. Der Quellen¬
werth im Sinne der exacten Geschichtsforschung wird natürlich immer gerin¬
ger, denn von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der eigentlichen Urkunden, aus
denen sich eine ganz andere objective Grundlage des Thatsächlichen gewinnen
läßt, wie aus den von vornherein subjectiv gefärbten Geschichtschreibern. In
dieser Hinsicht müssen also die historiographischen Erzeugnisse des 14. Jahrh,
denen des 15. an sich und im Allgemeinen überlegen sein, gleichviel wie sich
das Werthverhältniß im einzelnen Falle herausstellt und eben deshalb bieten
jene dem eigentlichen Forscher an sich einen größeren Reiz als diese. Nur
handelt es sich immer bloß um ein Mehr oder Minder, ein Heller oder Dunk¬
ler innerhalb derselben Hauptfarbe, nicht um einen wirklichen Farben¬
unterschied.

Das Buch von Lorenz behandelt Deutschlands Geschichtsquellen, treibt
also schon auf dem Titel den Standpunkt der praktischen Benutzbarkeit für
die moderne Wissenschaft entschieden und mit Bewußtsein heraus. Auch
Wattenbachs Buch führt diese Bezeichnung, wie es denn selbstverständlich und
nach dem ausdrücklichen Bekenntniß und Wunsche des Verfassers des jüngeren
Buches als dessen unmittelbares Vorbild und Muster anzusehen ist. In
erster Linie handelt es sich also überall, die kritischen Principien festzustellen,
welche für die Verwendung des in diesem oder jenem Geschichtschreiber oder
Geschichtswerke der Zeit enthaltenen historischen Materials nach den Grund¬
sätzen der heutigen Wissenschaft, der neuen deutschen historischen Schule ma߬
gebend sind. Doch handelt es sich nicht ausschließlich darum.

Schon Wattenbach hat die Geschichtschreiber des früheren Mittelalters
nicht bloß in Hinsicht auf die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung, sondern auch
in Hinsicht aus die Komposition des von ihnen Erzählten und die von ihnen


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[0375] wirkliche Grenze, der Schluß einer bisherigen Entwickelungsreihe unserer Hi¬ storiographie und der Anfang einer neuen ist an dieser Stelle nicht zu finden, das hat sich schon gezeigt. Ein Historiker wird freilich anders über die Bedeutung dieser Zeitgrenze urtheilen, wenn er auf den Inhalt der Geschichte und nicht bloß auf die Form ihrer Ueberlieferung Rücksicht nimmt. Keine Frage, daß mit den großen Concilien und den Hussitenkriegen eine wesentlich neue Epoche der deutschen Geschichte beginnt, deren Bereich von da an das ganze 15, Jahrh, umfaßt, oder bis zur Reformation, wenn man für die zeitliche Marke eine sachliche setzen wollte. Aber von einem veränderten Typus der Geschichtschrei¬ bung während des 13. Jahrhunderts ist nichts wahrzunehmen, oder höchstens nur insoweit, als alle jene wesentlichen Charakterzüge, die dem ganzen Nach¬ mittelalter und bis tief in die Neuzeit eigenthümlich sind, mit dem Fortschritt der Jahre immer deutlicher heraustreten. Die Physiognomie wird begreiflich je älter desto markirter, die Züge selbst bleiben aber die alten. Der Quellen¬ werth im Sinne der exacten Geschichtsforschung wird natürlich immer gerin¬ ger, denn von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der eigentlichen Urkunden, aus denen sich eine ganz andere objective Grundlage des Thatsächlichen gewinnen läßt, wie aus den von vornherein subjectiv gefärbten Geschichtschreibern. In dieser Hinsicht müssen also die historiographischen Erzeugnisse des 14. Jahrh, denen des 15. an sich und im Allgemeinen überlegen sein, gleichviel wie sich das Werthverhältniß im einzelnen Falle herausstellt und eben deshalb bieten jene dem eigentlichen Forscher an sich einen größeren Reiz als diese. Nur handelt es sich immer bloß um ein Mehr oder Minder, ein Heller oder Dunk¬ ler innerhalb derselben Hauptfarbe, nicht um einen wirklichen Farben¬ unterschied. Das Buch von Lorenz behandelt Deutschlands Geschichtsquellen, treibt also schon auf dem Titel den Standpunkt der praktischen Benutzbarkeit für die moderne Wissenschaft entschieden und mit Bewußtsein heraus. Auch Wattenbachs Buch führt diese Bezeichnung, wie es denn selbstverständlich und nach dem ausdrücklichen Bekenntniß und Wunsche des Verfassers des jüngeren Buches als dessen unmittelbares Vorbild und Muster anzusehen ist. In erster Linie handelt es sich also überall, die kritischen Principien festzustellen, welche für die Verwendung des in diesem oder jenem Geschichtschreiber oder Geschichtswerke der Zeit enthaltenen historischen Materials nach den Grund¬ sätzen der heutigen Wissenschaft, der neuen deutschen historischen Schule ma߬ gebend sind. Doch handelt es sich nicht ausschließlich darum. Schon Wattenbach hat die Geschichtschreiber des früheren Mittelalters nicht bloß in Hinsicht auf die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählung, sondern auch in Hinsicht aus die Komposition des von ihnen Erzählten und die von ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/375>, abgerufen am 28.08.2024.