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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Renaissance und Volksthum vertreten. Das lateinische Drama wird durch
Kaspar Brülow in würdigster Weise repräsentirt, "das bedeutendste drama¬
tische Talent, das unsere Literatur in der Zeit vor Lessing aufzuweisen hat/'
das nur deshalb vergessen ist, weil es lateinisch dichtete. Wolfgang Spa ir¬
gend er g dagegen wendete sich in den dramatischen Formen des Hans Sachs
an das Volk, der Eindruck, den seine Stücke machten, war um so größer, je
mehr er durch seine typischen Gestalten dem Publieum verständlich ward.
Denn das, "was in Spangenbergs Schriften zum ersten Male recht hand¬
greiflich zum Vorschein kommt, ist der deutsche bürgerliche Philister, dessen
Signalement sich etwa so zusammenfassen läßt: respectabel, sittlich und ehr¬
bar; guter Familienvater; sehr guter Christ, d. h. strenggläubig und stark
pharisäisch gegenüber anderen Confessionen; Schwung und Leidenschaft ver¬
pönt; heidenmäßiger Respect vor dem, was er die Obrigkeit nennt und wo¬
runter er unter Umständen jeden Büttel versteht; dabei sehr großmäulig, wo
es gilt, auf die Tyrannen, auf Hof und Fürsten im Allgemeinen zu räsonni-
ren; in Summa: ungefährlich." --- Doch abgesehen von den genannten Dra¬
matikern steht das Elsaß auch in diesem Zeitraume in keiner Weise hinter
dem übrigen Deutschland zurück, man braucht nur des Ensisheimer Jacob
Bälde lateinische Gedichte, die Werke des Straßburger Historikers Udelin,
vor Allem aber Moscherosch zu nennen, um dies zu beweisen. Namentlich
Moscherosch, der strafende zürnende Satiriker, den die verderbte Zeit nicht
minder, als seine literarische Bildung zum Schriftsteller machten, ist seines
Hasses gegen die Verwälschung wegen in diesem Zusammenhange sehr be¬
achtenswert!). Wie kräftig liest er den alamodischen Narren den Text, die
sich ihres Vaterlandes, ihrer Sprache schämen, den entarteten "Nachkömmlin¬
gen" des Ehrenvest (Ariovist), die der Fremden Sitte und Unsitte nachäffen:
O alte Mannheit! o alte deutsche Tapferkeit und Redlichkeit, wo bist Du hin
geflogen? Ihr Deutschlinge, Ihr ungerathene Nachkömmlinge! Was hilft euch
alle neue Unart? Altes Wesen her! Alte Geberden her! In Hitze und Frost
übt euch, nicht in Schminken und Schmecken. Alte Herzen her! So schön
diese Worte auch sind, öfter schoß Moscherosch auch über das Ziel, so wenn
er sich darüber ereifert, daß man heutzutage den Salat nicht mehr mit den
Fingern, sondern mit der Gabel ißt. Aber wohl erscheint uns sein Haß
gegen das Franzosenthum völlig berechtigt, wenn man bedenkt, wie durch die
Verehrung der "gallischen" Sitte die Brücke gelegt ward, auf der Frankreich
zur Besitzergreifung deutscher Lande vorrückte. Oft dargestellt ist sie, jene
empörende Vergewaltigung, jener frevelhafte Raub deutscher Lande durch
Frankreichs Herrscher, trotzdem erregt die in dem obengenannten Buche ge¬
gebene Schilderung dieser Künste des Truges und der Attentate brutaler Ge¬
walt unser lebhaftes Interesse. Man staunt, wenn hier in übersichtlicher,


Renaissance und Volksthum vertreten. Das lateinische Drama wird durch
Kaspar Brülow in würdigster Weise repräsentirt, „das bedeutendste drama¬
tische Talent, das unsere Literatur in der Zeit vor Lessing aufzuweisen hat/'
das nur deshalb vergessen ist, weil es lateinisch dichtete. Wolfgang Spa ir¬
gend er g dagegen wendete sich in den dramatischen Formen des Hans Sachs
an das Volk, der Eindruck, den seine Stücke machten, war um so größer, je
mehr er durch seine typischen Gestalten dem Publieum verständlich ward.
Denn das, „was in Spangenbergs Schriften zum ersten Male recht hand¬
greiflich zum Vorschein kommt, ist der deutsche bürgerliche Philister, dessen
Signalement sich etwa so zusammenfassen läßt: respectabel, sittlich und ehr¬
bar; guter Familienvater; sehr guter Christ, d. h. strenggläubig und stark
pharisäisch gegenüber anderen Confessionen; Schwung und Leidenschaft ver¬
pönt; heidenmäßiger Respect vor dem, was er die Obrigkeit nennt und wo¬
runter er unter Umständen jeden Büttel versteht; dabei sehr großmäulig, wo
es gilt, auf die Tyrannen, auf Hof und Fürsten im Allgemeinen zu räsonni-
ren; in Summa: ungefährlich." -— Doch abgesehen von den genannten Dra¬
matikern steht das Elsaß auch in diesem Zeitraume in keiner Weise hinter
dem übrigen Deutschland zurück, man braucht nur des Ensisheimer Jacob
Bälde lateinische Gedichte, die Werke des Straßburger Historikers Udelin,
vor Allem aber Moscherosch zu nennen, um dies zu beweisen. Namentlich
Moscherosch, der strafende zürnende Satiriker, den die verderbte Zeit nicht
minder, als seine literarische Bildung zum Schriftsteller machten, ist seines
Hasses gegen die Verwälschung wegen in diesem Zusammenhange sehr be¬
achtenswert!). Wie kräftig liest er den alamodischen Narren den Text, die
sich ihres Vaterlandes, ihrer Sprache schämen, den entarteten „Nachkömmlin¬
gen" des Ehrenvest (Ariovist), die der Fremden Sitte und Unsitte nachäffen:
O alte Mannheit! o alte deutsche Tapferkeit und Redlichkeit, wo bist Du hin
geflogen? Ihr Deutschlinge, Ihr ungerathene Nachkömmlinge! Was hilft euch
alle neue Unart? Altes Wesen her! Alte Geberden her! In Hitze und Frost
übt euch, nicht in Schminken und Schmecken. Alte Herzen her! So schön
diese Worte auch sind, öfter schoß Moscherosch auch über das Ziel, so wenn
er sich darüber ereifert, daß man heutzutage den Salat nicht mehr mit den
Fingern, sondern mit der Gabel ißt. Aber wohl erscheint uns sein Haß
gegen das Franzosenthum völlig berechtigt, wenn man bedenkt, wie durch die
Verehrung der „gallischen" Sitte die Brücke gelegt ward, auf der Frankreich
zur Besitzergreifung deutscher Lande vorrückte. Oft dargestellt ist sie, jene
empörende Vergewaltigung, jener frevelhafte Raub deutscher Lande durch
Frankreichs Herrscher, trotzdem erregt die in dem obengenannten Buche ge¬
gebene Schilderung dieser Künste des Truges und der Attentate brutaler Ge¬
walt unser lebhaftes Interesse. Man staunt, wenn hier in übersichtlicher,


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[0283] Renaissance und Volksthum vertreten. Das lateinische Drama wird durch Kaspar Brülow in würdigster Weise repräsentirt, „das bedeutendste drama¬ tische Talent, das unsere Literatur in der Zeit vor Lessing aufzuweisen hat/' das nur deshalb vergessen ist, weil es lateinisch dichtete. Wolfgang Spa ir¬ gend er g dagegen wendete sich in den dramatischen Formen des Hans Sachs an das Volk, der Eindruck, den seine Stücke machten, war um so größer, je mehr er durch seine typischen Gestalten dem Publieum verständlich ward. Denn das, „was in Spangenbergs Schriften zum ersten Male recht hand¬ greiflich zum Vorschein kommt, ist der deutsche bürgerliche Philister, dessen Signalement sich etwa so zusammenfassen läßt: respectabel, sittlich und ehr¬ bar; guter Familienvater; sehr guter Christ, d. h. strenggläubig und stark pharisäisch gegenüber anderen Confessionen; Schwung und Leidenschaft ver¬ pönt; heidenmäßiger Respect vor dem, was er die Obrigkeit nennt und wo¬ runter er unter Umständen jeden Büttel versteht; dabei sehr großmäulig, wo es gilt, auf die Tyrannen, auf Hof und Fürsten im Allgemeinen zu räsonni- ren; in Summa: ungefährlich." -— Doch abgesehen von den genannten Dra¬ matikern steht das Elsaß auch in diesem Zeitraume in keiner Weise hinter dem übrigen Deutschland zurück, man braucht nur des Ensisheimer Jacob Bälde lateinische Gedichte, die Werke des Straßburger Historikers Udelin, vor Allem aber Moscherosch zu nennen, um dies zu beweisen. Namentlich Moscherosch, der strafende zürnende Satiriker, den die verderbte Zeit nicht minder, als seine literarische Bildung zum Schriftsteller machten, ist seines Hasses gegen die Verwälschung wegen in diesem Zusammenhange sehr be¬ achtenswert!). Wie kräftig liest er den alamodischen Narren den Text, die sich ihres Vaterlandes, ihrer Sprache schämen, den entarteten „Nachkömmlin¬ gen" des Ehrenvest (Ariovist), die der Fremden Sitte und Unsitte nachäffen: O alte Mannheit! o alte deutsche Tapferkeit und Redlichkeit, wo bist Du hin geflogen? Ihr Deutschlinge, Ihr ungerathene Nachkömmlinge! Was hilft euch alle neue Unart? Altes Wesen her! Alte Geberden her! In Hitze und Frost übt euch, nicht in Schminken und Schmecken. Alte Herzen her! So schön diese Worte auch sind, öfter schoß Moscherosch auch über das Ziel, so wenn er sich darüber ereifert, daß man heutzutage den Salat nicht mehr mit den Fingern, sondern mit der Gabel ißt. Aber wohl erscheint uns sein Haß gegen das Franzosenthum völlig berechtigt, wenn man bedenkt, wie durch die Verehrung der „gallischen" Sitte die Brücke gelegt ward, auf der Frankreich zur Besitzergreifung deutscher Lande vorrückte. Oft dargestellt ist sie, jene empörende Vergewaltigung, jener frevelhafte Raub deutscher Lande durch Frankreichs Herrscher, trotzdem erregt die in dem obengenannten Buche ge¬ gebene Schilderung dieser Künste des Truges und der Attentate brutaler Ge¬ walt unser lebhaftes Interesse. Man staunt, wenn hier in übersichtlicher,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/283>, abgerufen am 24.07.2024.