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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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ihnen Alsatia genannt wurde." -- Trotzdem war das Elsaß kein Phäaken-
land, kein Capua der Geister! Im Gegentheil, wenn man unter Cultur die
allseitige, gleichmäßige Ausbildung menschlicher Kräfte versteht, so hat im
Deutschland des sechszehnten Jahrhunderts das Elsaß die höchste Cul¬
tur. Bar Allem in der Literatur! Durch Kaisersberg, Braut und Murner
wie wir sahen, nicht minder aber durch Wickram, Fischart und Joh. Sturm.
Trefflich geschildert wird unter diesen I. Wickram, der Vater des deutschen
Romans (S. 30 ff,), vor Allem aber muß auf die ganz vorzügliche Darstellung
von Fi schart's Leben und Wirken aus Scherer's Feder hingewiesen wer¬
den. Von dem Stoffe, den Scherer behandelt, ist etwas in seine Schilderung
übergegangen. Doch man höre selbst: Fischart's Sprache im Gargantua ist
schäumender Champagner, Sie muthet uns an, wie jene Raketen, die hoch
in die Luft aufschwirren und oben in strahlende Garben von tausend Lichter¬
chen und Sternchen zerstieben. Ein Satz der gewöhnlichen Rede ist ein Wasser¬
tropfen. Bei Fischart sehen wir den Wassertropfen unter dem Sonnenmikro¬
skop, zahllose wunderliche Gestalten werden da lebendig und fliegen, schwirren,
rennen, tanzen, springen, wirbeln, taumeln, purzeln unter und übereinander
her: kaum daß man noch eine Ordnung, einen Zusammenhang entdeckt und
daß man sich bewußt bleibt, man habe es mit einer fortschreitenden Erzäh¬
lung zu thun. Es ist eben ein Fortschreiten mit Hindernissen. An jeder
Station wird Halt gemacht, in jeder Kneipe wird geschwelgt. Doch das
ist ein falsches Bild. Denn ein solches Reisen wäre sehr behaglich, und
behaglich ist Fischart gar nicht, vielmehr lebhaft bis zum Uebermaß. Ruhen
läßt er uns nicht, wir fühlen uns gehetzt, getrieben, gejagt, wir werden
athemlos, wir keuchen, wir stöhnen, wir werden müde, unsre Stimmung
wird Ungeduld, wir flehen um einen Augenblick des Stillstehens -- aber wir
sind von der wilden Jagd mitgerissen in ihrem rasenden Galopp -- ja, es ist
die wilde Wörterjagd; Fratzen, Ungethüme, Scheusale umgeben uns; Wort-
caricaturen tauchen im Zwielicht aus; "abenteuerlich" ist "affentheuerlich", me¬
lancholisch ist maulhenkolisch, Podagra ist Pfotengram, Republik ist Reichpöb-
lichkeit, Theologie ist Tollosei -- und so geht's fort in unendlichen Wand¬
lungen und Verhüllungen, Fischart besitzt den Zauberstab, um aus dem
harmlosesten Wort einen Proteus zu machen. Sein Gargantua ist die sprach¬
liche Walpurgisnacht. -- Man wird zugeben müssen, daß Fischart's Eigenart
kaum je treffender charakterisirt wurde.

In ausführlicher Weise wird sodann die Gegenreformation behan¬
delt, die vornehmlich durch die Jesuiten durchgeführt ward, durch "die neue
Heuchlersekt, das Papstgeheck, daß da päpstlich Hölligkeit nennt die höchste
Obrigkeit," wie Fischart sagt. Wie natürlich bietet sie ein gar trübes Bild;
erfreulicher ist der Blick auf die Leistungen in der Literatur; auch hier sind


ihnen Alsatia genannt wurde." — Trotzdem war das Elsaß kein Phäaken-
land, kein Capua der Geister! Im Gegentheil, wenn man unter Cultur die
allseitige, gleichmäßige Ausbildung menschlicher Kräfte versteht, so hat im
Deutschland des sechszehnten Jahrhunderts das Elsaß die höchste Cul¬
tur. Bar Allem in der Literatur! Durch Kaisersberg, Braut und Murner
wie wir sahen, nicht minder aber durch Wickram, Fischart und Joh. Sturm.
Trefflich geschildert wird unter diesen I. Wickram, der Vater des deutschen
Romans (S. 30 ff,), vor Allem aber muß auf die ganz vorzügliche Darstellung
von Fi schart's Leben und Wirken aus Scherer's Feder hingewiesen wer¬
den. Von dem Stoffe, den Scherer behandelt, ist etwas in seine Schilderung
übergegangen. Doch man höre selbst: Fischart's Sprache im Gargantua ist
schäumender Champagner, Sie muthet uns an, wie jene Raketen, die hoch
in die Luft aufschwirren und oben in strahlende Garben von tausend Lichter¬
chen und Sternchen zerstieben. Ein Satz der gewöhnlichen Rede ist ein Wasser¬
tropfen. Bei Fischart sehen wir den Wassertropfen unter dem Sonnenmikro¬
skop, zahllose wunderliche Gestalten werden da lebendig und fliegen, schwirren,
rennen, tanzen, springen, wirbeln, taumeln, purzeln unter und übereinander
her: kaum daß man noch eine Ordnung, einen Zusammenhang entdeckt und
daß man sich bewußt bleibt, man habe es mit einer fortschreitenden Erzäh¬
lung zu thun. Es ist eben ein Fortschreiten mit Hindernissen. An jeder
Station wird Halt gemacht, in jeder Kneipe wird geschwelgt. Doch das
ist ein falsches Bild. Denn ein solches Reisen wäre sehr behaglich, und
behaglich ist Fischart gar nicht, vielmehr lebhaft bis zum Uebermaß. Ruhen
läßt er uns nicht, wir fühlen uns gehetzt, getrieben, gejagt, wir werden
athemlos, wir keuchen, wir stöhnen, wir werden müde, unsre Stimmung
wird Ungeduld, wir flehen um einen Augenblick des Stillstehens — aber wir
sind von der wilden Jagd mitgerissen in ihrem rasenden Galopp — ja, es ist
die wilde Wörterjagd; Fratzen, Ungethüme, Scheusale umgeben uns; Wort-
caricaturen tauchen im Zwielicht aus; „abenteuerlich" ist „affentheuerlich", me¬
lancholisch ist maulhenkolisch, Podagra ist Pfotengram, Republik ist Reichpöb-
lichkeit, Theologie ist Tollosei — und so geht's fort in unendlichen Wand¬
lungen und Verhüllungen, Fischart besitzt den Zauberstab, um aus dem
harmlosesten Wort einen Proteus zu machen. Sein Gargantua ist die sprach¬
liche Walpurgisnacht. — Man wird zugeben müssen, daß Fischart's Eigenart
kaum je treffender charakterisirt wurde.

In ausführlicher Weise wird sodann die Gegenreformation behan¬
delt, die vornehmlich durch die Jesuiten durchgeführt ward, durch „die neue
Heuchlersekt, das Papstgeheck, daß da päpstlich Hölligkeit nennt die höchste
Obrigkeit," wie Fischart sagt. Wie natürlich bietet sie ein gar trübes Bild;
erfreulicher ist der Blick auf die Leistungen in der Literatur; auch hier sind


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[0282] ihnen Alsatia genannt wurde." — Trotzdem war das Elsaß kein Phäaken- land, kein Capua der Geister! Im Gegentheil, wenn man unter Cultur die allseitige, gleichmäßige Ausbildung menschlicher Kräfte versteht, so hat im Deutschland des sechszehnten Jahrhunderts das Elsaß die höchste Cul¬ tur. Bar Allem in der Literatur! Durch Kaisersberg, Braut und Murner wie wir sahen, nicht minder aber durch Wickram, Fischart und Joh. Sturm. Trefflich geschildert wird unter diesen I. Wickram, der Vater des deutschen Romans (S. 30 ff,), vor Allem aber muß auf die ganz vorzügliche Darstellung von Fi schart's Leben und Wirken aus Scherer's Feder hingewiesen wer¬ den. Von dem Stoffe, den Scherer behandelt, ist etwas in seine Schilderung übergegangen. Doch man höre selbst: Fischart's Sprache im Gargantua ist schäumender Champagner, Sie muthet uns an, wie jene Raketen, die hoch in die Luft aufschwirren und oben in strahlende Garben von tausend Lichter¬ chen und Sternchen zerstieben. Ein Satz der gewöhnlichen Rede ist ein Wasser¬ tropfen. Bei Fischart sehen wir den Wassertropfen unter dem Sonnenmikro¬ skop, zahllose wunderliche Gestalten werden da lebendig und fliegen, schwirren, rennen, tanzen, springen, wirbeln, taumeln, purzeln unter und übereinander her: kaum daß man noch eine Ordnung, einen Zusammenhang entdeckt und daß man sich bewußt bleibt, man habe es mit einer fortschreitenden Erzäh¬ lung zu thun. Es ist eben ein Fortschreiten mit Hindernissen. An jeder Station wird Halt gemacht, in jeder Kneipe wird geschwelgt. Doch das ist ein falsches Bild. Denn ein solches Reisen wäre sehr behaglich, und behaglich ist Fischart gar nicht, vielmehr lebhaft bis zum Uebermaß. Ruhen läßt er uns nicht, wir fühlen uns gehetzt, getrieben, gejagt, wir werden athemlos, wir keuchen, wir stöhnen, wir werden müde, unsre Stimmung wird Ungeduld, wir flehen um einen Augenblick des Stillstehens — aber wir sind von der wilden Jagd mitgerissen in ihrem rasenden Galopp — ja, es ist die wilde Wörterjagd; Fratzen, Ungethüme, Scheusale umgeben uns; Wort- caricaturen tauchen im Zwielicht aus; „abenteuerlich" ist „affentheuerlich", me¬ lancholisch ist maulhenkolisch, Podagra ist Pfotengram, Republik ist Reichpöb- lichkeit, Theologie ist Tollosei — und so geht's fort in unendlichen Wand¬ lungen und Verhüllungen, Fischart besitzt den Zauberstab, um aus dem harmlosesten Wort einen Proteus zu machen. Sein Gargantua ist die sprach¬ liche Walpurgisnacht. — Man wird zugeben müssen, daß Fischart's Eigenart kaum je treffender charakterisirt wurde. In ausführlicher Weise wird sodann die Gegenreformation behan¬ delt, die vornehmlich durch die Jesuiten durchgeführt ward, durch „die neue Heuchlersekt, das Papstgeheck, daß da päpstlich Hölligkeit nennt die höchste Obrigkeit," wie Fischart sagt. Wie natürlich bietet sie ein gar trübes Bild; erfreulicher ist der Blick auf die Leistungen in der Literatur; auch hier sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/282>, abgerufen am 24.07.2024.