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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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hoffen wir in dem Reiche. Mag dazu die Theorie das Ihrige thun, indem
sie denselben Eiser, den sie so lange an fremdem und historischem Recht be¬
währt hat, dem lebendigen Recht der Gegenwart zuwendet.




Ms Llsaß Vergangenheit.

Der erste Band der "Geschichte des Elsasses" der Wiener Universitäts¬
professoren O ttokar Lorenz und Wilhelm Scherer ist in diesen Blättern
bereits besprochen worden.") Der so eben erschienene zweite Band"*) liefert
uns ein würdiges Zeugniß für die gründlichen Studien, die patriotische Ge¬
sinnung und die Darstellungskunst der Verfasser. Der zweite Band wird er¬
öffnet mit der trefflichen Schilderung Joh. Sturm's und des Kampfes
gegen die leider auch hier stark hervortretende Tyrannei eines geistlos und ver¬
knöchert gewordenen Kirchenthums, wie es sich vor Allem in I. Marbach
ausdrückte, und wie es gegen den Geist der Aufklärung und jene Vorahnun¬
gen des Humanitätsevangeliums zu Felde zog, die in der ersten Hälfte des
sechszehnten Jahrhunderts Straßburgs Staatsmännern und Predigern inne-
wohnten. Das strengste Lutherthum griff immer mehr um sich, man ging
sogar daran, eine förmliche Inquisition einzurichten. Nur die Schule bil¬
dete ein Gegengewicht gegen diese Richtung; in ihr traten die Gedanken Ja¬
kob Sturm's und Bucer's stets auf's Neue in die Erscheinung. In dem
nächsten Kapitel: "Auf der Höhe der Cultur" (S. 18--41) wird die
außerordentlich frische Thätigkeit in Naturwissenschaft, Kunst, Industrie, Ge¬
schichtsschreibung, Dichtung, welche damals im Elsaß herrschte, in lebensvoller
Weise beschrieben. Da erfahren wir denn manch' Interessantes, wie hier auch
in der Medicin der Charakter der klassischen Renaissance bewahrt ward, wie
hier die ältesten "Väter der Botanik", in Daniel Specklin (1536 -- 1389)
der berühmteste Militärarchitekt seiner Zeit zu finden. Und wie behäbig war
damals das Elsässerleben, so daß man Legionen von Bettlern großziehen
konnte, "deren Unternehmunglust sie in die fernsten Länder führte, fo zwar,
daß sie europäischen Ruf genossen und daß das Londoner Bettlerquartier nach




Vgl. Heft 4 der Grenzboten 1871, S. 132.
") Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus
dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. II. Halbhart. Berlin, F.
Duncker, 1871.
Grenzboten II. 1871. 35

hoffen wir in dem Reiche. Mag dazu die Theorie das Ihrige thun, indem
sie denselben Eiser, den sie so lange an fremdem und historischem Recht be¬
währt hat, dem lebendigen Recht der Gegenwart zuwendet.




Ms Llsaß Vergangenheit.

Der erste Band der „Geschichte des Elsasses" der Wiener Universitäts¬
professoren O ttokar Lorenz und Wilhelm Scherer ist in diesen Blättern
bereits besprochen worden.") Der so eben erschienene zweite Band"*) liefert
uns ein würdiges Zeugniß für die gründlichen Studien, die patriotische Ge¬
sinnung und die Darstellungskunst der Verfasser. Der zweite Band wird er¬
öffnet mit der trefflichen Schilderung Joh. Sturm's und des Kampfes
gegen die leider auch hier stark hervortretende Tyrannei eines geistlos und ver¬
knöchert gewordenen Kirchenthums, wie es sich vor Allem in I. Marbach
ausdrückte, und wie es gegen den Geist der Aufklärung und jene Vorahnun¬
gen des Humanitätsevangeliums zu Felde zog, die in der ersten Hälfte des
sechszehnten Jahrhunderts Straßburgs Staatsmännern und Predigern inne-
wohnten. Das strengste Lutherthum griff immer mehr um sich, man ging
sogar daran, eine förmliche Inquisition einzurichten. Nur die Schule bil¬
dete ein Gegengewicht gegen diese Richtung; in ihr traten die Gedanken Ja¬
kob Sturm's und Bucer's stets auf's Neue in die Erscheinung. In dem
nächsten Kapitel: „Auf der Höhe der Cultur" (S. 18—41) wird die
außerordentlich frische Thätigkeit in Naturwissenschaft, Kunst, Industrie, Ge¬
schichtsschreibung, Dichtung, welche damals im Elsaß herrschte, in lebensvoller
Weise beschrieben. Da erfahren wir denn manch' Interessantes, wie hier auch
in der Medicin der Charakter der klassischen Renaissance bewahrt ward, wie
hier die ältesten „Väter der Botanik", in Daniel Specklin (1536 — 1389)
der berühmteste Militärarchitekt seiner Zeit zu finden. Und wie behäbig war
damals das Elsässerleben, so daß man Legionen von Bettlern großziehen
konnte, „deren Unternehmunglust sie in die fernsten Länder führte, fo zwar,
daß sie europäischen Ruf genossen und daß das Londoner Bettlerquartier nach




Vgl. Heft 4 der Grenzboten 1871, S. 132.
") Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus
dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. II. Halbhart. Berlin, F.
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[0281] hoffen wir in dem Reiche. Mag dazu die Theorie das Ihrige thun, indem sie denselben Eiser, den sie so lange an fremdem und historischem Recht be¬ währt hat, dem lebendigen Recht der Gegenwart zuwendet. Ms Llsaß Vergangenheit. Der erste Band der „Geschichte des Elsasses" der Wiener Universitäts¬ professoren O ttokar Lorenz und Wilhelm Scherer ist in diesen Blättern bereits besprochen worden.") Der so eben erschienene zweite Band"*) liefert uns ein würdiges Zeugniß für die gründlichen Studien, die patriotische Ge¬ sinnung und die Darstellungskunst der Verfasser. Der zweite Band wird er¬ öffnet mit der trefflichen Schilderung Joh. Sturm's und des Kampfes gegen die leider auch hier stark hervortretende Tyrannei eines geistlos und ver¬ knöchert gewordenen Kirchenthums, wie es sich vor Allem in I. Marbach ausdrückte, und wie es gegen den Geist der Aufklärung und jene Vorahnun¬ gen des Humanitätsevangeliums zu Felde zog, die in der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts Straßburgs Staatsmännern und Predigern inne- wohnten. Das strengste Lutherthum griff immer mehr um sich, man ging sogar daran, eine förmliche Inquisition einzurichten. Nur die Schule bil¬ dete ein Gegengewicht gegen diese Richtung; in ihr traten die Gedanken Ja¬ kob Sturm's und Bucer's stets auf's Neue in die Erscheinung. In dem nächsten Kapitel: „Auf der Höhe der Cultur" (S. 18—41) wird die außerordentlich frische Thätigkeit in Naturwissenschaft, Kunst, Industrie, Ge¬ schichtsschreibung, Dichtung, welche damals im Elsaß herrschte, in lebensvoller Weise beschrieben. Da erfahren wir denn manch' Interessantes, wie hier auch in der Medicin der Charakter der klassischen Renaissance bewahrt ward, wie hier die ältesten „Väter der Botanik", in Daniel Specklin (1536 — 1389) der berühmteste Militärarchitekt seiner Zeit zu finden. Und wie behäbig war damals das Elsässerleben, so daß man Legionen von Bettlern großziehen konnte, „deren Unternehmunglust sie in die fernsten Länder führte, fo zwar, daß sie europäischen Ruf genossen und daß das Londoner Bettlerquartier nach Vgl. Heft 4 der Grenzboten 1871, S. 132. ") Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bilder aus dem politischen und geistigen Leben der deutschen Westmark. II. Halbhart. Berlin, F. Duncker, 1871. Grenzboten II. 1871. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/281>, abgerufen am 24.07.2024.