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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Rechtswissenschaft nach der einmal vorhandenen Einrichtung und Eintheilung
der Disciplinen, nichts weiter.

In demselben ersten Semester wird mit den Institutionen das Studium
des römischen Rechts begonnen und im zweiten Semester in den Pandekten,
wozu dann früher oder später noch die römische Rechtsgeschichte kommt, weiterge¬
führt. Auf keinen andern Zweig des Studiums wird dieselbe Sorgfalt und Aus¬
führlichkeit verwendet. Das römische Recht ist ja die Grundlage der gesamm-
ten Rechtswissenschaft; nicht bloß in dem Sinne, daß daran die Art und
Weise des juristischen Denkens und der juristischen Construction gelernt wer¬
den sollte, sondern als Grundstock des geltenden Rechts. Der Pandektist lehrt
oder glaubt zu lehren praktisches Civilrecht. Denn nach der Dogma gewor¬
denen Bedeutung, welche die Doctrin der Reception des römischen Rechts in
Deutschland beilegt, die sich freilich als wirklicher geschichtlicher Borgang in
ganz anderem Lichte zeigt, denn als bequemer schematistischer Begriff, steht
fest, daß das römische Recht gilt, so weit nicht nach dem Landesrecht und
insonderheit nach der ausdrücklichen Landesgesetzgebung anderes Recht zur
Anwendung zu bringen ist.

Worin dies andere Recht besteht, damit befaßt sich der Romanist nicht;
aus dem nämlichen Grund, dem wir bei der Prozeßlehre begegnet sind. Wie
kann der Romanist, zumal bei der Fülle schon des römisch rechtlichen Stoffs
auf die überaus verschiedenartigen, zum großen Theil nicht codificirten, ver¬
einzelten, oft nicht einmal gesammelten Normen der Partieularrechte Rück¬
sicht nehmen!

Das muß eigenen Borlesungen anheimgestellt werden. Wo das Parti-
cularrecht dazu bedeutend genug ist, wie in Preußen, soweit das Landrecht
oder das Rheinische Recht reicht, in Sachsen und anderswo, bieten die Landes¬
universitäten eine Vorlesung über ihr Particularrecht dem Bedürfniß dar;
wobei die Wahrnehmung nicht uninteressant erscheint, wie sich wissenschaftliche
Taxation zwischen Partikularrecht und gemeinem Recht stellt, die uns deutlich
darthun möchte, wie sehr selbst das wichtigste und ausgebildetste Particular¬
recht einfach durch feinen particularrechtlichen Charakter herabgedrückt wird.

Allein in anderen Rechtsgebieten gibt es kein codisicirtes oder auch nur
wissenschaftlich zusammengestelltes Privatrecht. Und doch gibt es eine Menge
von abweichenden Gesetzen über Einzelheiten und leicht möglich eine noch
größere Menge von Gewohnheiten und Ergebnissen der praktischen Uebung,
welche das römische Recht an tausend Stellen durchlöchern oder modificiren.

Trotz dieser Erfahrung, die aller Orten offenkundig, wird das römische
Pcmdektenrecht, ich wiederhole es, nicht als Einleitung in das Studium des
Privatrechts, sondern als das eigentliche, zu voller praktischer Geltung be¬
rechtigte, durch das Eingreifen anderer Rechte und Gesetze gleichsam nur


Rechtswissenschaft nach der einmal vorhandenen Einrichtung und Eintheilung
der Disciplinen, nichts weiter.

In demselben ersten Semester wird mit den Institutionen das Studium
des römischen Rechts begonnen und im zweiten Semester in den Pandekten,
wozu dann früher oder später noch die römische Rechtsgeschichte kommt, weiterge¬
führt. Auf keinen andern Zweig des Studiums wird dieselbe Sorgfalt und Aus¬
führlichkeit verwendet. Das römische Recht ist ja die Grundlage der gesamm-
ten Rechtswissenschaft; nicht bloß in dem Sinne, daß daran die Art und
Weise des juristischen Denkens und der juristischen Construction gelernt wer¬
den sollte, sondern als Grundstock des geltenden Rechts. Der Pandektist lehrt
oder glaubt zu lehren praktisches Civilrecht. Denn nach der Dogma gewor¬
denen Bedeutung, welche die Doctrin der Reception des römischen Rechts in
Deutschland beilegt, die sich freilich als wirklicher geschichtlicher Borgang in
ganz anderem Lichte zeigt, denn als bequemer schematistischer Begriff, steht
fest, daß das römische Recht gilt, so weit nicht nach dem Landesrecht und
insonderheit nach der ausdrücklichen Landesgesetzgebung anderes Recht zur
Anwendung zu bringen ist.

Worin dies andere Recht besteht, damit befaßt sich der Romanist nicht;
aus dem nämlichen Grund, dem wir bei der Prozeßlehre begegnet sind. Wie
kann der Romanist, zumal bei der Fülle schon des römisch rechtlichen Stoffs
auf die überaus verschiedenartigen, zum großen Theil nicht codificirten, ver¬
einzelten, oft nicht einmal gesammelten Normen der Partieularrechte Rück¬
sicht nehmen!

Das muß eigenen Borlesungen anheimgestellt werden. Wo das Parti-
cularrecht dazu bedeutend genug ist, wie in Preußen, soweit das Landrecht
oder das Rheinische Recht reicht, in Sachsen und anderswo, bieten die Landes¬
universitäten eine Vorlesung über ihr Particularrecht dem Bedürfniß dar;
wobei die Wahrnehmung nicht uninteressant erscheint, wie sich wissenschaftliche
Taxation zwischen Partikularrecht und gemeinem Recht stellt, die uns deutlich
darthun möchte, wie sehr selbst das wichtigste und ausgebildetste Particular¬
recht einfach durch feinen particularrechtlichen Charakter herabgedrückt wird.

Allein in anderen Rechtsgebieten gibt es kein codisicirtes oder auch nur
wissenschaftlich zusammengestelltes Privatrecht. Und doch gibt es eine Menge
von abweichenden Gesetzen über Einzelheiten und leicht möglich eine noch
größere Menge von Gewohnheiten und Ergebnissen der praktischen Uebung,
welche das römische Recht an tausend Stellen durchlöchern oder modificiren.

Trotz dieser Erfahrung, die aller Orten offenkundig, wird das römische
Pcmdektenrecht, ich wiederhole es, nicht als Einleitung in das Studium des
Privatrechts, sondern als das eigentliche, zu voller praktischer Geltung be¬
rechtigte, durch das Eingreifen anderer Rechte und Gesetze gleichsam nur


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[0272] Rechtswissenschaft nach der einmal vorhandenen Einrichtung und Eintheilung der Disciplinen, nichts weiter. In demselben ersten Semester wird mit den Institutionen das Studium des römischen Rechts begonnen und im zweiten Semester in den Pandekten, wozu dann früher oder später noch die römische Rechtsgeschichte kommt, weiterge¬ führt. Auf keinen andern Zweig des Studiums wird dieselbe Sorgfalt und Aus¬ führlichkeit verwendet. Das römische Recht ist ja die Grundlage der gesamm- ten Rechtswissenschaft; nicht bloß in dem Sinne, daß daran die Art und Weise des juristischen Denkens und der juristischen Construction gelernt wer¬ den sollte, sondern als Grundstock des geltenden Rechts. Der Pandektist lehrt oder glaubt zu lehren praktisches Civilrecht. Denn nach der Dogma gewor¬ denen Bedeutung, welche die Doctrin der Reception des römischen Rechts in Deutschland beilegt, die sich freilich als wirklicher geschichtlicher Borgang in ganz anderem Lichte zeigt, denn als bequemer schematistischer Begriff, steht fest, daß das römische Recht gilt, so weit nicht nach dem Landesrecht und insonderheit nach der ausdrücklichen Landesgesetzgebung anderes Recht zur Anwendung zu bringen ist. Worin dies andere Recht besteht, damit befaßt sich der Romanist nicht; aus dem nämlichen Grund, dem wir bei der Prozeßlehre begegnet sind. Wie kann der Romanist, zumal bei der Fülle schon des römisch rechtlichen Stoffs auf die überaus verschiedenartigen, zum großen Theil nicht codificirten, ver¬ einzelten, oft nicht einmal gesammelten Normen der Partieularrechte Rück¬ sicht nehmen! Das muß eigenen Borlesungen anheimgestellt werden. Wo das Parti- cularrecht dazu bedeutend genug ist, wie in Preußen, soweit das Landrecht oder das Rheinische Recht reicht, in Sachsen und anderswo, bieten die Landes¬ universitäten eine Vorlesung über ihr Particularrecht dem Bedürfniß dar; wobei die Wahrnehmung nicht uninteressant erscheint, wie sich wissenschaftliche Taxation zwischen Partikularrecht und gemeinem Recht stellt, die uns deutlich darthun möchte, wie sehr selbst das wichtigste und ausgebildetste Particular¬ recht einfach durch feinen particularrechtlichen Charakter herabgedrückt wird. Allein in anderen Rechtsgebieten gibt es kein codisicirtes oder auch nur wissenschaftlich zusammengestelltes Privatrecht. Und doch gibt es eine Menge von abweichenden Gesetzen über Einzelheiten und leicht möglich eine noch größere Menge von Gewohnheiten und Ergebnissen der praktischen Uebung, welche das römische Recht an tausend Stellen durchlöchern oder modificiren. Trotz dieser Erfahrung, die aller Orten offenkundig, wird das römische Pcmdektenrecht, ich wiederhole es, nicht als Einleitung in das Studium des Privatrechts, sondern als das eigentliche, zu voller praktischer Geltung be¬ rechtigte, durch das Eingreifen anderer Rechte und Gesetze gleichsam nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/272>, abgerufen am 25.07.2024.