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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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dictirten Werke der Gesetzgeber ein wissenschaftliches System herauszubilden
und nicht sich an bloß commentarischen Erläuterungen genügen zu lassen.
Alles, was bis dahin bestand, also auch der seitherige gemeine Proceß, wird
lediglich geschichtlicher Stoff; als solcher nicht für die Wissenschaft unnütz,
aber doch wohl zu trennen von dem bestehenden Recht. Es wäre nur zu
wünschen, daß der Geschichte des Civilproeesses eine Aufmerksamkeit geschenkt
würde, die sie bis jetzt auf den Hochschulen nicht genossen hat. In der
Kenntniß der geschichtlichen Entwicklung und ihrer Gründe liegt auch hier
die wahre Wissenschaftlichkeit, welche sich frei über das positive Gesetz erhebt.
Bis jetzt pflegt allenfalls eine historische Vorlesung über den römischen Civil¬
proceß in den Katalogen eine Stelle zu finden, aber auch nichts weiter. Mit
dem untergegangenen Musterbild aus ferner Vorzeit ist wenig gethan. Man
sollte billig erwarten, daß sich, wenn nicht der gesammte historische Stoff
mit der Darstellung des geltenden Proceßrechts zu einer einzigen Vorlesung
verbunden werden kann, allmählig eine eigene Vorlesung gestalten wird, welche
namentlich auch zum Nutzen derer, die zur Theilnahme an den Gesetzgebungs¬
arbeiten berufen werden, die Rechtsgeschichte des Processes durch die verschie¬
denen Epochen hin umfaßt. Ohne das wird die Blüthe einer nationalen
Wissenschaft, die sich auch an die neue Proceßordnung anschließen soll, ein
frommer Wunsch bleiben.

Am schlimmsten sieht es unstreitig mit der Erziehung und Lehre im Ge¬
biete des bürgerlichen Rechts aus. Dort wird den Studirenden eigentlich Un¬
mögliches zugemuthet.

Der zum juristischen Studium bestimmte Abiturient kommt meist auf
der Hochschule an, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was ihn er¬
wartet. Er belegt zwar sofort Encyclopädie und Methodologie, -- es sei
denn, daß Einer das im ersten Semester vergißt und, wie thatsächlich vor¬
gekommen, dieses zu allen Zeiten nützliche Colleg aus dem schnöden
Grunde, weil es testirt werden muß, erst in einem der letzten Semester
besucht, -- hört sie auch vielleicht mit mehr oder minder Aufmerksamkeit,
erfährt aber über den Punkt, der uns hier beschäftigt, nämlich darüber, wie
sich eigentlich die einzelnen Disciplinen des materiellen Rechts zu einander
verhalten, wenig Aufschluß. Er erfährt, daß es ein römisches Recht, ein deutsches
Recht, ein gemeines und Partieularrecht, ein gewöhnliches bürgerliches und ein
Handelsrecht gibt, er erfährt von dem Inhalte, von der Stellung des einen
zum andern, die bald als eine gleichberechtigte, bald eine substdiäre oder wie
sonst beschrieben wird. Allein schwerlich gewinnt er eine Ahnung davon, in
welchem Maße alle diese Elemente in der innern Entwicklung sich durchkreu¬
zen und an dem Bestände des geltenden Rechts betheiligt sind. Die Ency¬
clopädie ist, wie Jedermann weiß, eine beschreibende Gesamtübersicht der


dictirten Werke der Gesetzgeber ein wissenschaftliches System herauszubilden
und nicht sich an bloß commentarischen Erläuterungen genügen zu lassen.
Alles, was bis dahin bestand, also auch der seitherige gemeine Proceß, wird
lediglich geschichtlicher Stoff; als solcher nicht für die Wissenschaft unnütz,
aber doch wohl zu trennen von dem bestehenden Recht. Es wäre nur zu
wünschen, daß der Geschichte des Civilproeesses eine Aufmerksamkeit geschenkt
würde, die sie bis jetzt auf den Hochschulen nicht genossen hat. In der
Kenntniß der geschichtlichen Entwicklung und ihrer Gründe liegt auch hier
die wahre Wissenschaftlichkeit, welche sich frei über das positive Gesetz erhebt.
Bis jetzt pflegt allenfalls eine historische Vorlesung über den römischen Civil¬
proceß in den Katalogen eine Stelle zu finden, aber auch nichts weiter. Mit
dem untergegangenen Musterbild aus ferner Vorzeit ist wenig gethan. Man
sollte billig erwarten, daß sich, wenn nicht der gesammte historische Stoff
mit der Darstellung des geltenden Proceßrechts zu einer einzigen Vorlesung
verbunden werden kann, allmählig eine eigene Vorlesung gestalten wird, welche
namentlich auch zum Nutzen derer, die zur Theilnahme an den Gesetzgebungs¬
arbeiten berufen werden, die Rechtsgeschichte des Processes durch die verschie¬
denen Epochen hin umfaßt. Ohne das wird die Blüthe einer nationalen
Wissenschaft, die sich auch an die neue Proceßordnung anschließen soll, ein
frommer Wunsch bleiben.

Am schlimmsten sieht es unstreitig mit der Erziehung und Lehre im Ge¬
biete des bürgerlichen Rechts aus. Dort wird den Studirenden eigentlich Un¬
mögliches zugemuthet.

Der zum juristischen Studium bestimmte Abiturient kommt meist auf
der Hochschule an, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was ihn er¬
wartet. Er belegt zwar sofort Encyclopädie und Methodologie, — es sei
denn, daß Einer das im ersten Semester vergißt und, wie thatsächlich vor¬
gekommen, dieses zu allen Zeiten nützliche Colleg aus dem schnöden
Grunde, weil es testirt werden muß, erst in einem der letzten Semester
besucht, — hört sie auch vielleicht mit mehr oder minder Aufmerksamkeit,
erfährt aber über den Punkt, der uns hier beschäftigt, nämlich darüber, wie
sich eigentlich die einzelnen Disciplinen des materiellen Rechts zu einander
verhalten, wenig Aufschluß. Er erfährt, daß es ein römisches Recht, ein deutsches
Recht, ein gemeines und Partieularrecht, ein gewöhnliches bürgerliches und ein
Handelsrecht gibt, er erfährt von dem Inhalte, von der Stellung des einen
zum andern, die bald als eine gleichberechtigte, bald eine substdiäre oder wie
sonst beschrieben wird. Allein schwerlich gewinnt er eine Ahnung davon, in
welchem Maße alle diese Elemente in der innern Entwicklung sich durchkreu¬
zen und an dem Bestände des geltenden Rechts betheiligt sind. Die Ency¬
clopädie ist, wie Jedermann weiß, eine beschreibende Gesamtübersicht der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/271>, abgerufen am 25.07.2024.