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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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widerwillig und in möglichst beschränktem Umfange von der Herrschaft ver¬
drängte Recht dargestellt. Der in dem Oorxus juris vor anderthalb tausend
Jahren niedergelegte Inbegriff der römischen Rechtsentwicklung ist dem star¬
ren Romanisten noch heute die verkörperte Wahrheit, die Norm, nach der sich
eine total andere Culturepoche, die auf Schritt und Tritt den Römern völlig
unbekannte Erscheinungen und die schneidendsten Gegensätze aufweist, noch
heute fügen soll. Noch heute wird vielfach in dem Tone fort gelehrt, als ob
die Welt und die Rechtsbegriffe noch immer dieselben geblieben wären.

Doch das ist nicht die einzige Versündigung. Nehmen wir an, der junge
Mann hat das römische Recht glücklich absolvirt. Er müßte mindestens in
den Ländern des gemeinen Rechts, wo ihm nicht von vorn herein für die
späteren Semester ein Colleg über Particularrecht entgegenwirkt, vorerst glau¬
ben, nun im Besitze des geltenden Rechts zu sein. Der Student ist gläubig;
und aus dem Munde des Pandektisten wurde ihm das römische Civilrechtim
Durchschnitt, höchstens hie und da mit einigen wenigen Andeutungen: daß,
wie z. B. die Lehre von der Vormundschaft sich im neueren Rechte oder nach
deutschen Ansichten doch modificirt habe, nicht als Etwas, das war, sondern
als das, welches ist, verkündigt.

Dann kommt das Studium des deutschen Privatrechts und der deutschen
Rechtsgeschichte. Dem bis dahin römisch-rechtlich erzogenen Jünger der Ju¬
risprudenz wird vorgeführt, wie sich das native deutsche Recht entwickelt und
trotz des römischen Rechts, das dabei mitunter manchen Seitenhieb erfährt,
in vielen Spuren und ganzen Rechtsinstituten fortwährend erhalten hat. Ist
dieser Theil des Unterrichts beendet, so weiß der angehende Jurist, daß außer
dem praktisch geltenden römischen Recht auch ein praktisch gültiges deutsches
Recht vorhanden ist.

Natürlich muß auch die deutsche Rechtsbildung gelehrt und gelernt wer¬
den. Aber die Sorge ist, ob dies in organischem Zusammenhang mit der
Darstellung dessen, was römischen Ursprungs ist, geschieht, oder ob jedes für
sich behandelt wird. Ich weiß sehr wohl, daß von angesehenen Rechtslehrern
Versuche gemacht sind, deutsches und römisches Recht einheitlich zu verbinden.
Germanisten haben versucht, die Darstellung deutschen Privatrechts zu einer
Darstellung des geltenden deutschen Rechts mit Einschluß seiner romanistischen
Elemente zu erweitern. Romanisten haben es unternommen, ihre Pandekten
der Ausnahme und Berücksichtigung deutscher Rechtsgrundsätze und namentlich der
modernen Legislation nicht ganz zu verschließen. Es brauchen nur Namen
wie Wächter, Gerber, Windscheid, genannt zu werden. Die Doctrin selbst
fühlt, was noththut. Allein es sind doch bis jetzt nur Anfänge, vereinzelte
Bestrebungen. Der größte Theil der Schule, das ist allbekannt, verharrt


Grenzboten it. 1871. 34

widerwillig und in möglichst beschränktem Umfange von der Herrschaft ver¬
drängte Recht dargestellt. Der in dem Oorxus juris vor anderthalb tausend
Jahren niedergelegte Inbegriff der römischen Rechtsentwicklung ist dem star¬
ren Romanisten noch heute die verkörperte Wahrheit, die Norm, nach der sich
eine total andere Culturepoche, die auf Schritt und Tritt den Römern völlig
unbekannte Erscheinungen und die schneidendsten Gegensätze aufweist, noch
heute fügen soll. Noch heute wird vielfach in dem Tone fort gelehrt, als ob
die Welt und die Rechtsbegriffe noch immer dieselben geblieben wären.

Doch das ist nicht die einzige Versündigung. Nehmen wir an, der junge
Mann hat das römische Recht glücklich absolvirt. Er müßte mindestens in
den Ländern des gemeinen Rechts, wo ihm nicht von vorn herein für die
späteren Semester ein Colleg über Particularrecht entgegenwirkt, vorerst glau¬
ben, nun im Besitze des geltenden Rechts zu sein. Der Student ist gläubig;
und aus dem Munde des Pandektisten wurde ihm das römische Civilrechtim
Durchschnitt, höchstens hie und da mit einigen wenigen Andeutungen: daß,
wie z. B. die Lehre von der Vormundschaft sich im neueren Rechte oder nach
deutschen Ansichten doch modificirt habe, nicht als Etwas, das war, sondern
als das, welches ist, verkündigt.

Dann kommt das Studium des deutschen Privatrechts und der deutschen
Rechtsgeschichte. Dem bis dahin römisch-rechtlich erzogenen Jünger der Ju¬
risprudenz wird vorgeführt, wie sich das native deutsche Recht entwickelt und
trotz des römischen Rechts, das dabei mitunter manchen Seitenhieb erfährt,
in vielen Spuren und ganzen Rechtsinstituten fortwährend erhalten hat. Ist
dieser Theil des Unterrichts beendet, so weiß der angehende Jurist, daß außer
dem praktisch geltenden römischen Recht auch ein praktisch gültiges deutsches
Recht vorhanden ist.

Natürlich muß auch die deutsche Rechtsbildung gelehrt und gelernt wer¬
den. Aber die Sorge ist, ob dies in organischem Zusammenhang mit der
Darstellung dessen, was römischen Ursprungs ist, geschieht, oder ob jedes für
sich behandelt wird. Ich weiß sehr wohl, daß von angesehenen Rechtslehrern
Versuche gemacht sind, deutsches und römisches Recht einheitlich zu verbinden.
Germanisten haben versucht, die Darstellung deutschen Privatrechts zu einer
Darstellung des geltenden deutschen Rechts mit Einschluß seiner romanistischen
Elemente zu erweitern. Romanisten haben es unternommen, ihre Pandekten
der Ausnahme und Berücksichtigung deutscher Rechtsgrundsätze und namentlich der
modernen Legislation nicht ganz zu verschließen. Es brauchen nur Namen
wie Wächter, Gerber, Windscheid, genannt zu werden. Die Doctrin selbst
fühlt, was noththut. Allein es sind doch bis jetzt nur Anfänge, vereinzelte
Bestrebungen. Der größte Theil der Schule, das ist allbekannt, verharrt


Grenzboten it. 1871. 34
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[0273] widerwillig und in möglichst beschränktem Umfange von der Herrschaft ver¬ drängte Recht dargestellt. Der in dem Oorxus juris vor anderthalb tausend Jahren niedergelegte Inbegriff der römischen Rechtsentwicklung ist dem star¬ ren Romanisten noch heute die verkörperte Wahrheit, die Norm, nach der sich eine total andere Culturepoche, die auf Schritt und Tritt den Römern völlig unbekannte Erscheinungen und die schneidendsten Gegensätze aufweist, noch heute fügen soll. Noch heute wird vielfach in dem Tone fort gelehrt, als ob die Welt und die Rechtsbegriffe noch immer dieselben geblieben wären. Doch das ist nicht die einzige Versündigung. Nehmen wir an, der junge Mann hat das römische Recht glücklich absolvirt. Er müßte mindestens in den Ländern des gemeinen Rechts, wo ihm nicht von vorn herein für die späteren Semester ein Colleg über Particularrecht entgegenwirkt, vorerst glau¬ ben, nun im Besitze des geltenden Rechts zu sein. Der Student ist gläubig; und aus dem Munde des Pandektisten wurde ihm das römische Civilrechtim Durchschnitt, höchstens hie und da mit einigen wenigen Andeutungen: daß, wie z. B. die Lehre von der Vormundschaft sich im neueren Rechte oder nach deutschen Ansichten doch modificirt habe, nicht als Etwas, das war, sondern als das, welches ist, verkündigt. Dann kommt das Studium des deutschen Privatrechts und der deutschen Rechtsgeschichte. Dem bis dahin römisch-rechtlich erzogenen Jünger der Ju¬ risprudenz wird vorgeführt, wie sich das native deutsche Recht entwickelt und trotz des römischen Rechts, das dabei mitunter manchen Seitenhieb erfährt, in vielen Spuren und ganzen Rechtsinstituten fortwährend erhalten hat. Ist dieser Theil des Unterrichts beendet, so weiß der angehende Jurist, daß außer dem praktisch geltenden römischen Recht auch ein praktisch gültiges deutsches Recht vorhanden ist. Natürlich muß auch die deutsche Rechtsbildung gelehrt und gelernt wer¬ den. Aber die Sorge ist, ob dies in organischem Zusammenhang mit der Darstellung dessen, was römischen Ursprungs ist, geschieht, oder ob jedes für sich behandelt wird. Ich weiß sehr wohl, daß von angesehenen Rechtslehrern Versuche gemacht sind, deutsches und römisches Recht einheitlich zu verbinden. Germanisten haben versucht, die Darstellung deutschen Privatrechts zu einer Darstellung des geltenden deutschen Rechts mit Einschluß seiner romanistischen Elemente zu erweitern. Romanisten haben es unternommen, ihre Pandekten der Ausnahme und Berücksichtigung deutscher Rechtsgrundsätze und namentlich der modernen Legislation nicht ganz zu verschließen. Es brauchen nur Namen wie Wächter, Gerber, Windscheid, genannt zu werden. Die Doctrin selbst fühlt, was noththut. Allein es sind doch bis jetzt nur Anfänge, vereinzelte Bestrebungen. Der größte Theil der Schule, das ist allbekannt, verharrt Grenzboten it. 1871. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/273>, abgerufen am 25.07.2024.