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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Ist gut gesorgt auf einer Universität, so findet sich allenfalls ein
zweiter Docent, bei dem hinterher der particuläre Proceß des betreffenden
Landes gehört werden kann oder gehört werden muß. Alsdann tritt nur
zu oft ein, was wir weiter noch an andern Disciplinen darzulegen haben:
dem Jünger der Wissenschaft wird sehr leicht der gemeine Proceß und der
particuläre, jeder für sich in die Hand gegeben, ohne irgend genügende Ver¬
mittlung. Jeder wird ihm als das Recht, das er wissen und üben soll, dar¬
gestellt; und doch sind es zwei. Mag er damit sich abfinden. Daß da Ver¬
wirrung unvermeidlich, liegt am Tage. Oder der Vortrag des particulären
Processes, man hat auch davon Beispiele, besteht darin, daß anstatt einer
ausführlichen systematischen Entwicklung des Landesverfahrens aphoristisch die
Besonderheiten und Abweichungen von dem gemeinen Proceß auseinanderge¬
setzt werden, was dann vollends dahin führt, daß eine solche Vorlesung von
den Studenten mit stillem Grausen angetreten zu werden pflegt.

Wo dagegen gemeine und particuläre Proceßlehre nicht geradezu getrennt
erscheint, bleibt dem Processualisten, der nicht über sich vermag, in's blaue
hinein unter dem Titel des gemeinen Rechts in der Wirklichkeit bereits histo¬
risch, wo nicht mythisch gewordene Dinge zum Besten zu geben, Nichts übrig,
als auf andere Auswege zu sinnen. Mindestens wird er unwillkührlich, da
den praktischen Zustand aller deutschen Rechtsgebiete zu umfassen völlig un¬
möglich ist, sich an das praktisch gültige Recht anzulehnen suchen, welches für
feine Erfahrung am nächsten liegt, also an das Recht seines Landes. Ge¬
wiß ganz nützlich für diejenigen seiner Zuhörer, die aus diesem Lande stammen
und dort zu wirken gedenken. Für alle Fremden aber liegt die Gefahr nahe,
den Kern der deutschen Proceßlehre dergestalt von particulären Rücksichten
umhüllt zu erhalten, daß der allgemeine Nutzen der Lehre erheblich beeinträch¬
tigt wird. Noch andere Lehrer bemühen sich, die für die verschiedenen Legis-
lationen, deren Deutschland sich erfreut, maßgebenden Gesichtspuncte heranzu¬
ziehen. Vergleichende Betrachtung solcher Art hat gewiß ihren Reiz. Aber
sie setzt doch voraus, daß zugleich das ganze technische Material der Proceßlehre
beherrscht wird und darin steckt eben die Schwierigkeit und die Gefahr, daß
bei solcher Methode die Darstellung des Positiven, die von Allem erforder¬
lich, leicht leidet.

Sobald demnächst ein einheitliches Proceßrecht für ganz Deutschland in
Kraft tritt, wird diese Verlegenheit, in der sich die Doctrin des Processes
zur Stunde noch befindet, gründlich gehoben. Wir werden dann ein praktisch
gültiges Proceßrecht haben und kein Lehrer wird mehr im Zweifel darüber
sein können, wie er dem praktischen Bedürfniß der Lernenden genügen soll.
Auch hier wird Sache der Wissenschaft sein, aus dem, wie wir voraussetzen
dürfen, mehr von praktischen Rücksichten und praktischer Gesetzgebungsroutine


Ist gut gesorgt auf einer Universität, so findet sich allenfalls ein
zweiter Docent, bei dem hinterher der particuläre Proceß des betreffenden
Landes gehört werden kann oder gehört werden muß. Alsdann tritt nur
zu oft ein, was wir weiter noch an andern Disciplinen darzulegen haben:
dem Jünger der Wissenschaft wird sehr leicht der gemeine Proceß und der
particuläre, jeder für sich in die Hand gegeben, ohne irgend genügende Ver¬
mittlung. Jeder wird ihm als das Recht, das er wissen und üben soll, dar¬
gestellt; und doch sind es zwei. Mag er damit sich abfinden. Daß da Ver¬
wirrung unvermeidlich, liegt am Tage. Oder der Vortrag des particulären
Processes, man hat auch davon Beispiele, besteht darin, daß anstatt einer
ausführlichen systematischen Entwicklung des Landesverfahrens aphoristisch die
Besonderheiten und Abweichungen von dem gemeinen Proceß auseinanderge¬
setzt werden, was dann vollends dahin führt, daß eine solche Vorlesung von
den Studenten mit stillem Grausen angetreten zu werden pflegt.

Wo dagegen gemeine und particuläre Proceßlehre nicht geradezu getrennt
erscheint, bleibt dem Processualisten, der nicht über sich vermag, in's blaue
hinein unter dem Titel des gemeinen Rechts in der Wirklichkeit bereits histo¬
risch, wo nicht mythisch gewordene Dinge zum Besten zu geben, Nichts übrig,
als auf andere Auswege zu sinnen. Mindestens wird er unwillkührlich, da
den praktischen Zustand aller deutschen Rechtsgebiete zu umfassen völlig un¬
möglich ist, sich an das praktisch gültige Recht anzulehnen suchen, welches für
feine Erfahrung am nächsten liegt, also an das Recht seines Landes. Ge¬
wiß ganz nützlich für diejenigen seiner Zuhörer, die aus diesem Lande stammen
und dort zu wirken gedenken. Für alle Fremden aber liegt die Gefahr nahe,
den Kern der deutschen Proceßlehre dergestalt von particulären Rücksichten
umhüllt zu erhalten, daß der allgemeine Nutzen der Lehre erheblich beeinträch¬
tigt wird. Noch andere Lehrer bemühen sich, die für die verschiedenen Legis-
lationen, deren Deutschland sich erfreut, maßgebenden Gesichtspuncte heranzu¬
ziehen. Vergleichende Betrachtung solcher Art hat gewiß ihren Reiz. Aber
sie setzt doch voraus, daß zugleich das ganze technische Material der Proceßlehre
beherrscht wird und darin steckt eben die Schwierigkeit und die Gefahr, daß
bei solcher Methode die Darstellung des Positiven, die von Allem erforder¬
lich, leicht leidet.

Sobald demnächst ein einheitliches Proceßrecht für ganz Deutschland in
Kraft tritt, wird diese Verlegenheit, in der sich die Doctrin des Processes
zur Stunde noch befindet, gründlich gehoben. Wir werden dann ein praktisch
gültiges Proceßrecht haben und kein Lehrer wird mehr im Zweifel darüber
sein können, wie er dem praktischen Bedürfniß der Lernenden genügen soll.
Auch hier wird Sache der Wissenschaft sein, aus dem, wie wir voraussetzen
dürfen, mehr von praktischen Rücksichten und praktischer Gesetzgebungsroutine


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[0270] Ist gut gesorgt auf einer Universität, so findet sich allenfalls ein zweiter Docent, bei dem hinterher der particuläre Proceß des betreffenden Landes gehört werden kann oder gehört werden muß. Alsdann tritt nur zu oft ein, was wir weiter noch an andern Disciplinen darzulegen haben: dem Jünger der Wissenschaft wird sehr leicht der gemeine Proceß und der particuläre, jeder für sich in die Hand gegeben, ohne irgend genügende Ver¬ mittlung. Jeder wird ihm als das Recht, das er wissen und üben soll, dar¬ gestellt; und doch sind es zwei. Mag er damit sich abfinden. Daß da Ver¬ wirrung unvermeidlich, liegt am Tage. Oder der Vortrag des particulären Processes, man hat auch davon Beispiele, besteht darin, daß anstatt einer ausführlichen systematischen Entwicklung des Landesverfahrens aphoristisch die Besonderheiten und Abweichungen von dem gemeinen Proceß auseinanderge¬ setzt werden, was dann vollends dahin führt, daß eine solche Vorlesung von den Studenten mit stillem Grausen angetreten zu werden pflegt. Wo dagegen gemeine und particuläre Proceßlehre nicht geradezu getrennt erscheint, bleibt dem Processualisten, der nicht über sich vermag, in's blaue hinein unter dem Titel des gemeinen Rechts in der Wirklichkeit bereits histo¬ risch, wo nicht mythisch gewordene Dinge zum Besten zu geben, Nichts übrig, als auf andere Auswege zu sinnen. Mindestens wird er unwillkührlich, da den praktischen Zustand aller deutschen Rechtsgebiete zu umfassen völlig un¬ möglich ist, sich an das praktisch gültige Recht anzulehnen suchen, welches für feine Erfahrung am nächsten liegt, also an das Recht seines Landes. Ge¬ wiß ganz nützlich für diejenigen seiner Zuhörer, die aus diesem Lande stammen und dort zu wirken gedenken. Für alle Fremden aber liegt die Gefahr nahe, den Kern der deutschen Proceßlehre dergestalt von particulären Rücksichten umhüllt zu erhalten, daß der allgemeine Nutzen der Lehre erheblich beeinträch¬ tigt wird. Noch andere Lehrer bemühen sich, die für die verschiedenen Legis- lationen, deren Deutschland sich erfreut, maßgebenden Gesichtspuncte heranzu¬ ziehen. Vergleichende Betrachtung solcher Art hat gewiß ihren Reiz. Aber sie setzt doch voraus, daß zugleich das ganze technische Material der Proceßlehre beherrscht wird und darin steckt eben die Schwierigkeit und die Gefahr, daß bei solcher Methode die Darstellung des Positiven, die von Allem erforder¬ lich, leicht leidet. Sobald demnächst ein einheitliches Proceßrecht für ganz Deutschland in Kraft tritt, wird diese Verlegenheit, in der sich die Doctrin des Processes zur Stunde noch befindet, gründlich gehoben. Wir werden dann ein praktisch gültiges Proceßrecht haben und kein Lehrer wird mehr im Zweifel darüber sein können, wie er dem praktischen Bedürfniß der Lernenden genügen soll. Auch hier wird Sache der Wissenschaft sein, aus dem, wie wir voraussetzen dürfen, mehr von praktischen Rücksichten und praktischer Gesetzgebungsroutine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/270>, abgerufen am 24.07.2024.