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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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der ganzen französischen Literatur ihn lehrte, seine volle Kraft für die stark
und mächtig in den Saft tretende deutsche einzusetzen.

Es liegt nicht aus dem Wege, einen Blick auf Herder zu werfen, dessen
Urtheil an Goethe's Bekehrung von großem Einfluß gewesen sein wird. War
doch Herder erst kürzlich von seiner französischen Reise zurückgekehrt und noch
voll von den empfangenen Eindrücken.

Leider ist freilich Herder kein Goethe. Es ist ihm ganz unmöglich, ruhig
zu observiren, die Dinge auf sich wirken zu lassen. Die Reflexion, schon vor¬
her thätig, zerstört ihm jeden reinen Genuß, läßt ihn alles und jedes nur
als Studie, als Mittel zu unausführbaren gigantischen Darstellungen betrach¬
ten, die er sich heute zutraut, an denen er morgen verzweifelt. Man weiß,
wie antipathisch diese gährende Natur, die bei aller Fülle des Wissens, bei
aller Schärfe des Urtheils an nichts ein Genügen, eine ruhige Freude hatte,
auf Goethe schließlich wirkte. Ein wie reiches Bild französischen Lebens würde
uns Goethe gegeben haben, wie dürftig an Stoff sind die Aufzeichnungen
Herders! Man darf sogar zweifeln, ob Herder wirklich reicher an Anschau¬
ungen Frankreich verlassen habe, das er mit längst fertigen Vorstellungen
betreten. Nirgends eine Andeutung, dieses oder jenes sei ihm unerwartet,
überraschend oder auch nur anders erschienen, als er es sich vorgebildet hatte.
Herder gehört zu den unverbesserlichen Büchermenschen, die man durch die
ganze Welt schicken könnte und die doch überall nur das fänden und sähen,
was sie bereits wußten und aus ihrer Lectüre sich abstrahirt hatten. Dabei
kennt er sich ziemlich. Hundertmal bejammert er die Verhunzung durch Bü¬
cher. "Durch Bücher lernt man alles elend kennen." Er schilt sich "ein
Tintenfaß voll gelehrter Schriftstellerei--ein Repositorium voll Papiere
und Bücher, das nur in die Studirstube gehört." Er verachtet seine frühere
literarische Thätigkeit: "in kritischen, unnützen, groben, elenden, Wäldern
verlierst du das Feuer deiner Jugend" u. f. w. und gleichzeitig sinnt er darauf,
wie er durch diesen und jenen Aufsatz die "kritischen Wälder" ergänzen und
vervollständigen müsse, wie er sich durch eine neue Bearbeitung der ganzen
Sammlung dem Publicum in reinerer Gestalt empfehlen wolle. Ein rechter
Beweis, daß Selbsterkenntniß uns von erkannten Gebrechen nicht erlöst.

Aber gleichwohl. Schon der tiefe Bezug auf Goethe gibt seinen Mei¬
nungen ein Recht gehört zu werden. Mag man -- und wir thun es unbe¬
denklich -- Herder für unendlich viel weniger originell halten, als er sich selbst
vorkam, auch die in's Großartige gesteigerte Conceptionskraft einer weiblich
angelegten Seele befähigte ihn zu tief greifender Wirkung auf seine Zeit¬
genossen. Nicht schwer dürfte fallen, die Herder'schen Urtheile über franzö¬
sische Volksart und Literatur auf Lessingische Anregungen zurückzuleiten.


der ganzen französischen Literatur ihn lehrte, seine volle Kraft für die stark
und mächtig in den Saft tretende deutsche einzusetzen.

Es liegt nicht aus dem Wege, einen Blick auf Herder zu werfen, dessen
Urtheil an Goethe's Bekehrung von großem Einfluß gewesen sein wird. War
doch Herder erst kürzlich von seiner französischen Reise zurückgekehrt und noch
voll von den empfangenen Eindrücken.

Leider ist freilich Herder kein Goethe. Es ist ihm ganz unmöglich, ruhig
zu observiren, die Dinge auf sich wirken zu lassen. Die Reflexion, schon vor¬
her thätig, zerstört ihm jeden reinen Genuß, läßt ihn alles und jedes nur
als Studie, als Mittel zu unausführbaren gigantischen Darstellungen betrach¬
ten, die er sich heute zutraut, an denen er morgen verzweifelt. Man weiß,
wie antipathisch diese gährende Natur, die bei aller Fülle des Wissens, bei
aller Schärfe des Urtheils an nichts ein Genügen, eine ruhige Freude hatte,
auf Goethe schließlich wirkte. Ein wie reiches Bild französischen Lebens würde
uns Goethe gegeben haben, wie dürftig an Stoff sind die Aufzeichnungen
Herders! Man darf sogar zweifeln, ob Herder wirklich reicher an Anschau¬
ungen Frankreich verlassen habe, das er mit längst fertigen Vorstellungen
betreten. Nirgends eine Andeutung, dieses oder jenes sei ihm unerwartet,
überraschend oder auch nur anders erschienen, als er es sich vorgebildet hatte.
Herder gehört zu den unverbesserlichen Büchermenschen, die man durch die
ganze Welt schicken könnte und die doch überall nur das fänden und sähen,
was sie bereits wußten und aus ihrer Lectüre sich abstrahirt hatten. Dabei
kennt er sich ziemlich. Hundertmal bejammert er die Verhunzung durch Bü¬
cher. „Durch Bücher lernt man alles elend kennen." Er schilt sich „ein
Tintenfaß voll gelehrter Schriftstellerei--ein Repositorium voll Papiere
und Bücher, das nur in die Studirstube gehört." Er verachtet seine frühere
literarische Thätigkeit: „in kritischen, unnützen, groben, elenden, Wäldern
verlierst du das Feuer deiner Jugend" u. f. w. und gleichzeitig sinnt er darauf,
wie er durch diesen und jenen Aufsatz die „kritischen Wälder" ergänzen und
vervollständigen müsse, wie er sich durch eine neue Bearbeitung der ganzen
Sammlung dem Publicum in reinerer Gestalt empfehlen wolle. Ein rechter
Beweis, daß Selbsterkenntniß uns von erkannten Gebrechen nicht erlöst.

Aber gleichwohl. Schon der tiefe Bezug auf Goethe gibt seinen Mei¬
nungen ein Recht gehört zu werden. Mag man — und wir thun es unbe¬
denklich — Herder für unendlich viel weniger originell halten, als er sich selbst
vorkam, auch die in's Großartige gesteigerte Conceptionskraft einer weiblich
angelegten Seele befähigte ihn zu tief greifender Wirkung auf seine Zeit¬
genossen. Nicht schwer dürfte fallen, die Herder'schen Urtheile über franzö¬
sische Volksart und Literatur auf Lessingische Anregungen zurückzuleiten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/263>, abgerufen am 24.07.2024.