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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Hat ihn doch die Reise nicht einmal toleranter gemacht, als sein großes
Vorbild, dessen Ruhm ihm so oft die Laune trübte.

Zu derjenigen objectiven Würdigung französischen Wesens, die an die
fremde Nation nicht die Maßstäbe der heimischen Vorstellungen von Ehre,
Schicklichkeit, Größe, Tugend und Laster, Anmuth und Würde heranbrächte,
hat sich nicht einmal Lessing erhoben, wie viel weniger Herder. Dazu kommt
der unzerstörbare Hang des Kritikers, der ein gegebenes Werk nicht mehr als
solches hinnehmen will, sondern sich die eigentlich insipide Frage vorlegt: wie
würde ich das Ding angefaßt haben! Das will ja kein Mensch wissen, nützt
keinem.

Von Herder kann man lernen, wie man nicht reisen sollte. Wer wird
sich die schöne Zeit so verderben, wie er! Die Zeit, die zum Sehen und
Hören gegeben ist, auf Lectüre verwenden. Um die Büffon's und Nollet's
recht schätzen zu lernen, reist man doch nicht nach Frankreich, das kann man
zu Hause; in den Hainen von Nantes irrt man doch nicht mit Juvenas'
herum, wenn man sich vorgesetzt hatte, Land und Leben zu sehen.

Herders französisches Reisejournal enthält wenig, was er nicht in Sibi¬
rien mit eben so gutem Grunde hätte aufzeichnen können. Lange, lange
Plane zur Reform des Rigaischen höheren Schulwesens, tumultuarische Ge¬
danken über die Politik Rußlands, über eine von ihm zu verfassende "Uni¬
versalgeschichte der Bildung der Welt," psychologische Ereurse und Gott weiß
was alles. Er will mehr als Luther und Calvin für Livland werden, er
will ein Journal gründen "Jahrbuch der Schriften für die Menschheit." Er
will Menschenkenntniß sammeln, dabei aber auch lesen "Menschheitsschriften,
in denen Deutschland jetzt (Herder landete in Frankreich am Is. Juli 1769
und reiste aus Paris im December) seine Periyde anfängt, und Frankreich,
das ganz Convention und Blendwerk ist, die seinige verlebt hat."
Mit diesem Vorurtheil betritt, in diesem Vorurtheil bestärkt, verläßt er den
Boden Frankreichs. Wir haben es oft gehört, oft nachgesprochen; Goethe
hat es angesteckt, doch nicht so eingenommen, daß er nicht später freu¬
dig anerkannt hätte, was wir von den Franzosen Gutes und Schönes
lernen können.

Herder ahnt, was die gründliche Erlernung der französischen Sprache,
die gleich nach der Muttersprache folgen soll, für die Jugendbildung sein
kann, aber der Zorn auf den Despoten Friedrich den Großen von Preußen,
der fo ungerecht die deutsche Literatur verwarf, läßt ihn gleich wieder einen
Dämpfer auflegen. Von der Sprache Frankreichs heißt es: "sie ist die allge¬
meinste und unentbehrlichste in Europa, sie ist nach unserer Denkart die ge¬
bildetste: der schöne Styl und der Ausdruck des Geschmacks ist am meisten
in ihr geformt und von ihr in andere übertragen; sie ist die leichteste und


Hat ihn doch die Reise nicht einmal toleranter gemacht, als sein großes
Vorbild, dessen Ruhm ihm so oft die Laune trübte.

Zu derjenigen objectiven Würdigung französischen Wesens, die an die
fremde Nation nicht die Maßstäbe der heimischen Vorstellungen von Ehre,
Schicklichkeit, Größe, Tugend und Laster, Anmuth und Würde heranbrächte,
hat sich nicht einmal Lessing erhoben, wie viel weniger Herder. Dazu kommt
der unzerstörbare Hang des Kritikers, der ein gegebenes Werk nicht mehr als
solches hinnehmen will, sondern sich die eigentlich insipide Frage vorlegt: wie
würde ich das Ding angefaßt haben! Das will ja kein Mensch wissen, nützt
keinem.

Von Herder kann man lernen, wie man nicht reisen sollte. Wer wird
sich die schöne Zeit so verderben, wie er! Die Zeit, die zum Sehen und
Hören gegeben ist, auf Lectüre verwenden. Um die Büffon's und Nollet's
recht schätzen zu lernen, reist man doch nicht nach Frankreich, das kann man
zu Hause; in den Hainen von Nantes irrt man doch nicht mit Juvenas'
herum, wenn man sich vorgesetzt hatte, Land und Leben zu sehen.

Herders französisches Reisejournal enthält wenig, was er nicht in Sibi¬
rien mit eben so gutem Grunde hätte aufzeichnen können. Lange, lange
Plane zur Reform des Rigaischen höheren Schulwesens, tumultuarische Ge¬
danken über die Politik Rußlands, über eine von ihm zu verfassende „Uni¬
versalgeschichte der Bildung der Welt," psychologische Ereurse und Gott weiß
was alles. Er will mehr als Luther und Calvin für Livland werden, er
will ein Journal gründen „Jahrbuch der Schriften für die Menschheit." Er
will Menschenkenntniß sammeln, dabei aber auch lesen „Menschheitsschriften,
in denen Deutschland jetzt (Herder landete in Frankreich am Is. Juli 1769
und reiste aus Paris im December) seine Periyde anfängt, und Frankreich,
das ganz Convention und Blendwerk ist, die seinige verlebt hat."
Mit diesem Vorurtheil betritt, in diesem Vorurtheil bestärkt, verläßt er den
Boden Frankreichs. Wir haben es oft gehört, oft nachgesprochen; Goethe
hat es angesteckt, doch nicht so eingenommen, daß er nicht später freu¬
dig anerkannt hätte, was wir von den Franzosen Gutes und Schönes
lernen können.

Herder ahnt, was die gründliche Erlernung der französischen Sprache,
die gleich nach der Muttersprache folgen soll, für die Jugendbildung sein
kann, aber der Zorn auf den Despoten Friedrich den Großen von Preußen,
der fo ungerecht die deutsche Literatur verwarf, läßt ihn gleich wieder einen
Dämpfer auflegen. Von der Sprache Frankreichs heißt es: „sie ist die allge¬
meinste und unentbehrlichste in Europa, sie ist nach unserer Denkart die ge¬
bildetste: der schöne Styl und der Ausdruck des Geschmacks ist am meisten
in ihr geformt und von ihr in andere übertragen; sie ist die leichteste und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/264>, abgerufen am 24.07.2024.