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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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komme, stellen dieselben nach Fadejew's Veranschlagung zusammen 1,844,000
Mann in das Feld, wogegen Rußlands 650,000 Mann um so weniger ge¬
nügen, als es gar keine sofort feldtüchtigen Reserven aufstellen könnte, von
denen alle übrigen Mächte noch Hunderttausende besitzen. Die von Fadejew
genannten Verhältnisse sind im Ganzen richtig, im Einzelnen stimmen die
Zahlen nicht, besonders nach den Ergebnissen des deutsch-französischen Krie¬
ges. So schreibt er dem Norddeutschen Bunde nur 507,000 "active Truppen"
und 200,000 Mann Landwehr zu, während nach einer ziemlich genauen Be¬
rechnung Preußen allein bereits 800,000 Mann in das Feld gestellt hat.
Aber das sind Nebenfragen. Seine Ansicht im Ganzen über das Verhältniß
der russischen Streitmacht zu derjenigen der anderen Großmächte dürfte zu¬
treffen. Er fordert demzufolge für europäische Verwickelungen die Aufstellung
folgender Heere: 70,000 Mann im Kaukasus, 100,000 Mann am Pruth und
600,000 in Polen; nicht zum Ausmarsch, sondern nur zur Abwehr von An¬
griffen würden nach ihm ferner erforderlich sein 40 Divisionen oder 480,000
Mann in den Küstenländern des baltischen und schwarzen Meeres, zur Nie¬
derhaltung der Polen und der Kaukaster, zur Besetzung der Festungen und
des Gebietes im Rücken der vorrückenden Angriffsheere. Außerdem verlangt
er für Asien und zur Vorsicht als Beobachtungscorps an gewissen Punkten
in Europa noch 130,000 Mann Auszugstruppen. Das macht zusammen ein
Heer von 1,380,000 Mann.

Ohne den ohnehin nicht im Gleichgewicht befindlichen Staatshaushalt
noch mehr zu belasten, also ohne den Friedenstruppenstand zu vermehren, will
General Fadejew die so geforderte Truppenmasse nach folgendem Plane auf¬
bringen: Die 40 Divisionen Landesvertheidiger sollen aus einer Volksmiliz
gebildet werden, die aber nicht, wie bisher schon dreimal, erst in der Zeit der
Bedrängniß durch den hereingebrochenen Feind einberufen, sondern schon im
Frieden organisirt und nothdürftig eingeübt werden sollen. Bisher habe
diese Miliz (Opoltseluznie) dem Staate nur große Kosten verursacht, aber nichts
genützt, denn sie sei ihrer Natur nach nicht geeignet, dasjenige wiederzuge¬
winnen, was die Auszugs-Truppen verloren haben. Nach Fadejew's Vor¬
schlage soll sie aus allen den diensttauglichen jungen Männern von 20, 21
und 22 Jahren zusammengesetzt werden, welche nicht zu den stehenden Truppen
eingezogen werden; zu Unterofficieren und Officieren bei ihnen soll man verab¬
schiedete Soldaten, Unterofficiere und Officiere unter Rangerhöhung machen;
dieselben sollen auch ihre regelmäßigen Waffenübungen (alle Jahre vier Wo¬
chen bis drei Monate) leiten.

Um anstatt der jetzt vorhandenen 47 Divisionen Feldinfanterie deren 60
herzustellen, empfiehlt er die Aufhebung der noch übrigen Lo caltrupp en,
der Festungsregimenter, der Gouvernementsbataillone und der sogenannten


Grenzboten II. 1871. Z2

komme, stellen dieselben nach Fadejew's Veranschlagung zusammen 1,844,000
Mann in das Feld, wogegen Rußlands 650,000 Mann um so weniger ge¬
nügen, als es gar keine sofort feldtüchtigen Reserven aufstellen könnte, von
denen alle übrigen Mächte noch Hunderttausende besitzen. Die von Fadejew
genannten Verhältnisse sind im Ganzen richtig, im Einzelnen stimmen die
Zahlen nicht, besonders nach den Ergebnissen des deutsch-französischen Krie¬
ges. So schreibt er dem Norddeutschen Bunde nur 507,000 „active Truppen"
und 200,000 Mann Landwehr zu, während nach einer ziemlich genauen Be¬
rechnung Preußen allein bereits 800,000 Mann in das Feld gestellt hat.
Aber das sind Nebenfragen. Seine Ansicht im Ganzen über das Verhältniß
der russischen Streitmacht zu derjenigen der anderen Großmächte dürfte zu¬
treffen. Er fordert demzufolge für europäische Verwickelungen die Aufstellung
folgender Heere: 70,000 Mann im Kaukasus, 100,000 Mann am Pruth und
600,000 in Polen; nicht zum Ausmarsch, sondern nur zur Abwehr von An¬
griffen würden nach ihm ferner erforderlich sein 40 Divisionen oder 480,000
Mann in den Küstenländern des baltischen und schwarzen Meeres, zur Nie¬
derhaltung der Polen und der Kaukaster, zur Besetzung der Festungen und
des Gebietes im Rücken der vorrückenden Angriffsheere. Außerdem verlangt
er für Asien und zur Vorsicht als Beobachtungscorps an gewissen Punkten
in Europa noch 130,000 Mann Auszugstruppen. Das macht zusammen ein
Heer von 1,380,000 Mann.

Ohne den ohnehin nicht im Gleichgewicht befindlichen Staatshaushalt
noch mehr zu belasten, also ohne den Friedenstruppenstand zu vermehren, will
General Fadejew die so geforderte Truppenmasse nach folgendem Plane auf¬
bringen: Die 40 Divisionen Landesvertheidiger sollen aus einer Volksmiliz
gebildet werden, die aber nicht, wie bisher schon dreimal, erst in der Zeit der
Bedrängniß durch den hereingebrochenen Feind einberufen, sondern schon im
Frieden organisirt und nothdürftig eingeübt werden sollen. Bisher habe
diese Miliz (Opoltseluznie) dem Staate nur große Kosten verursacht, aber nichts
genützt, denn sie sei ihrer Natur nach nicht geeignet, dasjenige wiederzuge¬
winnen, was die Auszugs-Truppen verloren haben. Nach Fadejew's Vor¬
schlage soll sie aus allen den diensttauglichen jungen Männern von 20, 21
und 22 Jahren zusammengesetzt werden, welche nicht zu den stehenden Truppen
eingezogen werden; zu Unterofficieren und Officieren bei ihnen soll man verab¬
schiedete Soldaten, Unterofficiere und Officiere unter Rangerhöhung machen;
dieselben sollen auch ihre regelmäßigen Waffenübungen (alle Jahre vier Wo¬
chen bis drei Monate) leiten.

Um anstatt der jetzt vorhandenen 47 Divisionen Feldinfanterie deren 60
herzustellen, empfiehlt er die Aufhebung der noch übrigen Lo caltrupp en,
der Festungsregimenter, der Gouvernementsbataillone und der sogenannten


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[0257] komme, stellen dieselben nach Fadejew's Veranschlagung zusammen 1,844,000 Mann in das Feld, wogegen Rußlands 650,000 Mann um so weniger ge¬ nügen, als es gar keine sofort feldtüchtigen Reserven aufstellen könnte, von denen alle übrigen Mächte noch Hunderttausende besitzen. Die von Fadejew genannten Verhältnisse sind im Ganzen richtig, im Einzelnen stimmen die Zahlen nicht, besonders nach den Ergebnissen des deutsch-französischen Krie¬ ges. So schreibt er dem Norddeutschen Bunde nur 507,000 „active Truppen" und 200,000 Mann Landwehr zu, während nach einer ziemlich genauen Be¬ rechnung Preußen allein bereits 800,000 Mann in das Feld gestellt hat. Aber das sind Nebenfragen. Seine Ansicht im Ganzen über das Verhältniß der russischen Streitmacht zu derjenigen der anderen Großmächte dürfte zu¬ treffen. Er fordert demzufolge für europäische Verwickelungen die Aufstellung folgender Heere: 70,000 Mann im Kaukasus, 100,000 Mann am Pruth und 600,000 in Polen; nicht zum Ausmarsch, sondern nur zur Abwehr von An¬ griffen würden nach ihm ferner erforderlich sein 40 Divisionen oder 480,000 Mann in den Küstenländern des baltischen und schwarzen Meeres, zur Nie¬ derhaltung der Polen und der Kaukaster, zur Besetzung der Festungen und des Gebietes im Rücken der vorrückenden Angriffsheere. Außerdem verlangt er für Asien und zur Vorsicht als Beobachtungscorps an gewissen Punkten in Europa noch 130,000 Mann Auszugstruppen. Das macht zusammen ein Heer von 1,380,000 Mann. Ohne den ohnehin nicht im Gleichgewicht befindlichen Staatshaushalt noch mehr zu belasten, also ohne den Friedenstruppenstand zu vermehren, will General Fadejew die so geforderte Truppenmasse nach folgendem Plane auf¬ bringen: Die 40 Divisionen Landesvertheidiger sollen aus einer Volksmiliz gebildet werden, die aber nicht, wie bisher schon dreimal, erst in der Zeit der Bedrängniß durch den hereingebrochenen Feind einberufen, sondern schon im Frieden organisirt und nothdürftig eingeübt werden sollen. Bisher habe diese Miliz (Opoltseluznie) dem Staate nur große Kosten verursacht, aber nichts genützt, denn sie sei ihrer Natur nach nicht geeignet, dasjenige wiederzuge¬ winnen, was die Auszugs-Truppen verloren haben. Nach Fadejew's Vor¬ schlage soll sie aus allen den diensttauglichen jungen Männern von 20, 21 und 22 Jahren zusammengesetzt werden, welche nicht zu den stehenden Truppen eingezogen werden; zu Unterofficieren und Officieren bei ihnen soll man verab¬ schiedete Soldaten, Unterofficiere und Officiere unter Rangerhöhung machen; dieselben sollen auch ihre regelmäßigen Waffenübungen (alle Jahre vier Wo¬ chen bis drei Monate) leiten. Um anstatt der jetzt vorhandenen 47 Divisionen Feldinfanterie deren 60 herzustellen, empfiehlt er die Aufhebung der noch übrigen Lo caltrupp en, der Festungsregimenter, der Gouvernementsbataillone und der sogenannten Grenzboten II. 1871. Z2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/257>, abgerufen am 25.07.2024.