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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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die große Masse des Heeres, das Fußvolk, angeht, findet nicht den Beifall
unseres Schriftstellers. Seine Ausstellungen betreffen hauptsächlich folgende
Punkte: Das verfügbare Heer ist für die Aufgaben des Reiches noch nicht
zahlreich genug; die Einstellung der Urlauber in andere Regimenter zerstört
den inneren Zusammenhalt derselben; die Volksmiliz muß schon im Frieden
nothdürftig eingeübt werden; die innere Wache, die Festungsregimenter und
die Localtruppen sind als solche überflüssig; an brauchbaren Officieren ist
großer Mangel.

Wie wir oben gesehen haben, hat Nußland allerdings in Europa keinen
ganz zuverlässigen Freund, und Fadejew hat also Recht, wenn er verlangt,
sein Vaterland müsse sich auf einen Kampf mit einem Bündniß von wenig¬
stens zwei Großmächten zugleich gefaßt machen, zumal eine einzelne derselben
sich schwerlich allein ihm gewachsen fühlen könne, ja es müsse sich in den Stand
setzen, ganz Europa auf einmal abzuwehren, wenn es auch in diesem Falle auf
den Beistand Amerika's rechnen dürfe. Beinahe, sagt Fadejew, wäre schon in
den letzten Jahren ein solcher Kampf gegen den gesammten Westen eingetre¬
ten. Wenn nun zwar Rußland einen großen Vortheil vor allen anderen
großen Staaten außer England in der schweren Zugänglichkeit seiner Grenzen
besitze, so dürfe es doch seine Feinde nicht unthätig innerhalb derselben er¬
warten, sondern müsse fähig sein, ihnen mit einer Angriffsbewegung zuvor¬
zukommen. Die strategische Grundlage dazu besitze es in seiner vortrefflichen
Stellung in Polen. "Dieser vorgeschobene Posten des russischen Reichs,
der als Keil in Europa hineinragt, wie eine Bastion zwischen Oestreich und
Preußen, bietet uns bekanntlich eine unvergleichliche Operationsbasi's, Im
Falle eines Krieges mit Oestreich oder mit Preußen kann unsere Armee, welche
den Lauf der Weichsel und die an derselben belegenen Festungen beherrscht,
von keiner einzigen Seite umgangen werden. Unsere Feinde können uns nur
von vorn an der am weitesten vorgeschobenen Grenze des Reiches angreifen,
während unsere Armee nach einigen Tagemärschen im Herzen des feindlichen
Landes erscheinen und dadurch mit einem Schlage die Hälfte des feindlichen
Gebietes lahm legen würde."

Um aber einen solchen Schlag zu führen, fehlt es noch immer an der
genügenden Truppenzahl, obgleich durch die Reorganisation von 1863 schon
viel gewonnen ist, indem die Zahl der Infanteriedivisionen von 28 auf 47
vermehrt worden ist, so daß das Angrtffsheer sich auf 630,000 Mann
beläuft. Im Krimkriege würde dieses Heer gegen die Verbündeten mehr als
ausgereicht haben, da 1853 die Heere der Großmächte außer Rußland zusam¬
men nur 1,060,000 Mann betrugen; jetzt aber, wo zu Preußen noch das
deutsche Reich gekommen ist und auch Italien als Großmacht in Berechnung


die große Masse des Heeres, das Fußvolk, angeht, findet nicht den Beifall
unseres Schriftstellers. Seine Ausstellungen betreffen hauptsächlich folgende
Punkte: Das verfügbare Heer ist für die Aufgaben des Reiches noch nicht
zahlreich genug; die Einstellung der Urlauber in andere Regimenter zerstört
den inneren Zusammenhalt derselben; die Volksmiliz muß schon im Frieden
nothdürftig eingeübt werden; die innere Wache, die Festungsregimenter und
die Localtruppen sind als solche überflüssig; an brauchbaren Officieren ist
großer Mangel.

Wie wir oben gesehen haben, hat Nußland allerdings in Europa keinen
ganz zuverlässigen Freund, und Fadejew hat also Recht, wenn er verlangt,
sein Vaterland müsse sich auf einen Kampf mit einem Bündniß von wenig¬
stens zwei Großmächten zugleich gefaßt machen, zumal eine einzelne derselben
sich schwerlich allein ihm gewachsen fühlen könne, ja es müsse sich in den Stand
setzen, ganz Europa auf einmal abzuwehren, wenn es auch in diesem Falle auf
den Beistand Amerika's rechnen dürfe. Beinahe, sagt Fadejew, wäre schon in
den letzten Jahren ein solcher Kampf gegen den gesammten Westen eingetre¬
ten. Wenn nun zwar Rußland einen großen Vortheil vor allen anderen
großen Staaten außer England in der schweren Zugänglichkeit seiner Grenzen
besitze, so dürfe es doch seine Feinde nicht unthätig innerhalb derselben er¬
warten, sondern müsse fähig sein, ihnen mit einer Angriffsbewegung zuvor¬
zukommen. Die strategische Grundlage dazu besitze es in seiner vortrefflichen
Stellung in Polen. „Dieser vorgeschobene Posten des russischen Reichs,
der als Keil in Europa hineinragt, wie eine Bastion zwischen Oestreich und
Preußen, bietet uns bekanntlich eine unvergleichliche Operationsbasi's, Im
Falle eines Krieges mit Oestreich oder mit Preußen kann unsere Armee, welche
den Lauf der Weichsel und die an derselben belegenen Festungen beherrscht,
von keiner einzigen Seite umgangen werden. Unsere Feinde können uns nur
von vorn an der am weitesten vorgeschobenen Grenze des Reiches angreifen,
während unsere Armee nach einigen Tagemärschen im Herzen des feindlichen
Landes erscheinen und dadurch mit einem Schlage die Hälfte des feindlichen
Gebietes lahm legen würde."

Um aber einen solchen Schlag zu führen, fehlt es noch immer an der
genügenden Truppenzahl, obgleich durch die Reorganisation von 1863 schon
viel gewonnen ist, indem die Zahl der Infanteriedivisionen von 28 auf 47
vermehrt worden ist, so daß das Angrtffsheer sich auf 630,000 Mann
beläuft. Im Krimkriege würde dieses Heer gegen die Verbündeten mehr als
ausgereicht haben, da 1853 die Heere der Großmächte außer Rußland zusam¬
men nur 1,060,000 Mann betrugen; jetzt aber, wo zu Preußen noch das
deutsche Reich gekommen ist und auch Italien als Großmacht in Berechnung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/256>, abgerufen am 25.07.2024.