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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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der Massen bezeichnet wird; -- wogegen die englische sich jedenfalls durch eine
mehr praktische Richtung günstig auszeichnet. Zu wirklichen Versuchen, die
Theorien in die Realität zu übersetzen, ist es in Deutschland am seltensten
gekommen. Während in Frankreich Socialismus und politische Revolution
sich identificiren (Commune), waren in England alle Arbeiterverbindungen
von Alters her klug genug, sich ausdrücklich der Politik ferne zu halten und
zum Beispiel auch in aufgeregten Zeiten die dargebotene Allianz der Charti¬
sten energisch zurückzuweisen. Erst in der neuesten Zeit sind die Arbeiter durch
das unmittelbare Interesse an der Erweiterung des politischen Stimmrechts
zu thätigen und bewußten Mitgliedern der vorgeschrittenen liberalen Partei
geworden, und zwar in der löblichen Weise, daß die eigentlichen Arbeiter-
candidaturen, d. h. die einseitige Vertretung eines ausschließlichen Classen¬
bewußtseins, bei ihnen wenig Anklang fanden.

Wenn man die 24 Seiten lange Abhandlung Oppenheim's mit dem über
700 Seiten starken Buch Schäffle's vergleicht, so wird man finden, daß Um¬
fang und Geist im umgekehrten Verhältnisse zu einander stehen.

Bei Oppenheim eine mit klaren, verständlichen und präcisen Strichen
gezeichnete realistische Uebersicht, welche an das eigene Denken des gebildeten
Lesers appellirt. Bei Schäffle eine schwere, schwülstige und oft verzopfte
Deduction von unendlicher Breite, deren Urheber von der Voraussetzung aus¬
zugeben scheint, die wirkliche Welt habe keinen andern Zweck, als einer mit
bloßen Denk-Formen hantirenden Dialektik zum Spielzeuge zu dienen, und
der Leser sei ein "höherer Schuljunge," dem man entweder den Brei in den
Mund schmieren, oder durch einen schwer verständlichen Gallimathias impo-
niren müsse.

, Haben wir vielleicht etwas zu lange bei der Person und dem Lebenslaufe
des Herrn Schäffle verweilt, so gestatte man uns zum Schlüsse, auch noch
einen raschen Blick auf die "Tage und Werke" Oppenheim's zu werfen.
Er ist in Frankfurt a. M. geboren und einer jener alten und vornehmen
israelitischen Familien entsprossen, welche man nach der Rolle, welche sie in
den freien Reichsstädten am Rhein seit Jahrhunderten spielten, "das jüdische
Patriciat" nennen darf. Vielleicht ist es dadurch zu erklären, daß neben der
liberalen und manchmal radicalen Weltanschauung, worin wir in Westdeutsch¬
land während des letzten Jahrhunderts Alle aufgewachsen sind, bei Oppen¬
heim die alte Tradition von "Kaiser und Reich" niemals ihre Zauberkraft
verloren hat.

Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert war Oppenheim Docent
der Staatswissenschaften und des Völkerrechts in Heidelberg. Beiläufig be¬
merkt, hat er auch ein Handbuch des Völkerrechts geschrieben, das kürzlich
die zweite Auflage erlebte und in bündigster Form die neuesten Resultate


der Massen bezeichnet wird; — wogegen die englische sich jedenfalls durch eine
mehr praktische Richtung günstig auszeichnet. Zu wirklichen Versuchen, die
Theorien in die Realität zu übersetzen, ist es in Deutschland am seltensten
gekommen. Während in Frankreich Socialismus und politische Revolution
sich identificiren (Commune), waren in England alle Arbeiterverbindungen
von Alters her klug genug, sich ausdrücklich der Politik ferne zu halten und
zum Beispiel auch in aufgeregten Zeiten die dargebotene Allianz der Charti¬
sten energisch zurückzuweisen. Erst in der neuesten Zeit sind die Arbeiter durch
das unmittelbare Interesse an der Erweiterung des politischen Stimmrechts
zu thätigen und bewußten Mitgliedern der vorgeschrittenen liberalen Partei
geworden, und zwar in der löblichen Weise, daß die eigentlichen Arbeiter-
candidaturen, d. h. die einseitige Vertretung eines ausschließlichen Classen¬
bewußtseins, bei ihnen wenig Anklang fanden.

Wenn man die 24 Seiten lange Abhandlung Oppenheim's mit dem über
700 Seiten starken Buch Schäffle's vergleicht, so wird man finden, daß Um¬
fang und Geist im umgekehrten Verhältnisse zu einander stehen.

Bei Oppenheim eine mit klaren, verständlichen und präcisen Strichen
gezeichnete realistische Uebersicht, welche an das eigene Denken des gebildeten
Lesers appellirt. Bei Schäffle eine schwere, schwülstige und oft verzopfte
Deduction von unendlicher Breite, deren Urheber von der Voraussetzung aus¬
zugeben scheint, die wirkliche Welt habe keinen andern Zweck, als einer mit
bloßen Denk-Formen hantirenden Dialektik zum Spielzeuge zu dienen, und
der Leser sei ein „höherer Schuljunge," dem man entweder den Brei in den
Mund schmieren, oder durch einen schwer verständlichen Gallimathias impo-
niren müsse.

, Haben wir vielleicht etwas zu lange bei der Person und dem Lebenslaufe
des Herrn Schäffle verweilt, so gestatte man uns zum Schlüsse, auch noch
einen raschen Blick auf die „Tage und Werke" Oppenheim's zu werfen.
Er ist in Frankfurt a. M. geboren und einer jener alten und vornehmen
israelitischen Familien entsprossen, welche man nach der Rolle, welche sie in
den freien Reichsstädten am Rhein seit Jahrhunderten spielten, „das jüdische
Patriciat" nennen darf. Vielleicht ist es dadurch zu erklären, daß neben der
liberalen und manchmal radicalen Weltanschauung, worin wir in Westdeutsch¬
land während des letzten Jahrhunderts Alle aufgewachsen sind, bei Oppen¬
heim die alte Tradition von „Kaiser und Reich" niemals ihre Zauberkraft
verloren hat.

Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert war Oppenheim Docent
der Staatswissenschaften und des Völkerrechts in Heidelberg. Beiläufig be¬
merkt, hat er auch ein Handbuch des Völkerrechts geschrieben, das kürzlich
die zweite Auflage erlebte und in bündigster Form die neuesten Resultate


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[0230] der Massen bezeichnet wird; — wogegen die englische sich jedenfalls durch eine mehr praktische Richtung günstig auszeichnet. Zu wirklichen Versuchen, die Theorien in die Realität zu übersetzen, ist es in Deutschland am seltensten gekommen. Während in Frankreich Socialismus und politische Revolution sich identificiren (Commune), waren in England alle Arbeiterverbindungen von Alters her klug genug, sich ausdrücklich der Politik ferne zu halten und zum Beispiel auch in aufgeregten Zeiten die dargebotene Allianz der Charti¬ sten energisch zurückzuweisen. Erst in der neuesten Zeit sind die Arbeiter durch das unmittelbare Interesse an der Erweiterung des politischen Stimmrechts zu thätigen und bewußten Mitgliedern der vorgeschrittenen liberalen Partei geworden, und zwar in der löblichen Weise, daß die eigentlichen Arbeiter- candidaturen, d. h. die einseitige Vertretung eines ausschließlichen Classen¬ bewußtseins, bei ihnen wenig Anklang fanden. Wenn man die 24 Seiten lange Abhandlung Oppenheim's mit dem über 700 Seiten starken Buch Schäffle's vergleicht, so wird man finden, daß Um¬ fang und Geist im umgekehrten Verhältnisse zu einander stehen. Bei Oppenheim eine mit klaren, verständlichen und präcisen Strichen gezeichnete realistische Uebersicht, welche an das eigene Denken des gebildeten Lesers appellirt. Bei Schäffle eine schwere, schwülstige und oft verzopfte Deduction von unendlicher Breite, deren Urheber von der Voraussetzung aus¬ zugeben scheint, die wirkliche Welt habe keinen andern Zweck, als einer mit bloßen Denk-Formen hantirenden Dialektik zum Spielzeuge zu dienen, und der Leser sei ein „höherer Schuljunge," dem man entweder den Brei in den Mund schmieren, oder durch einen schwer verständlichen Gallimathias impo- niren müsse. , Haben wir vielleicht etwas zu lange bei der Person und dem Lebenslaufe des Herrn Schäffle verweilt, so gestatte man uns zum Schlüsse, auch noch einen raschen Blick auf die „Tage und Werke" Oppenheim's zu werfen. Er ist in Frankfurt a. M. geboren und einer jener alten und vornehmen israelitischen Familien entsprossen, welche man nach der Rolle, welche sie in den freien Reichsstädten am Rhein seit Jahrhunderten spielten, „das jüdische Patriciat" nennen darf. Vielleicht ist es dadurch zu erklären, daß neben der liberalen und manchmal radicalen Weltanschauung, worin wir in Westdeutsch¬ land während des letzten Jahrhunderts Alle aufgewachsen sind, bei Oppen¬ heim die alte Tradition von „Kaiser und Reich" niemals ihre Zauberkraft verloren hat. Vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert war Oppenheim Docent der Staatswissenschaften und des Völkerrechts in Heidelberg. Beiläufig be¬ merkt, hat er auch ein Handbuch des Völkerrechts geschrieben, das kürzlich die zweite Auflage erlebte und in bündigster Form die neuesten Resultate

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/230>, abgerufen am 24.07.2024.