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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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des Erwerbes beschränken und die Gesellschaft nach einer unhistorischen Scha¬
blone von Oben oder von Unten construirend umgestalten wollen; auf der
anderen Seite steht die Wissenschaft der Volkswirthschaft, welche die imma¬
nenten Gesetze der Gütererzeugung und des Verkehrs erforschen und zur An¬
wendung bringen soll. Das Genossenschaftswesen und alle sonstigen vevnünf-
tigen Bestrebungen zur Hebung der niederen Classen fallen auf die Seite der
Volkswirthschaft und nicht auf die des Socialismus. In der Freiheit, welche
das Grundprincip der Volkswirthschaft ist, liegt das wesentlichste Element
der Krafterzeugung. So haben auch alle humanen Bestrebungen für die
leidenden Classen nur dauernden Werth, wenn und soweit sie an das System
der Selbsthülfe anknüpfen und selbstständige Kraft erzeugen oder befördern.
Heutzutage muß man den Muth haben, Volkswirthschaft und
Socialismus scharf von einander zu fondern und gegenüber
zu stellen. Jene Süßwasser-Socialisten aber, welche mit Worten spielend,
nach beiden Seiten schön thun, verwirren die Frage in politischer, wie in
ökonomischer Beziehung. Die "ultraliberale Principienreiterei," welche den
Staat auf das allgemeine Stimmrecht und die allgemeine Wehrpflicht, sowie
auf den obligatorischen Volksunterricht gründet, hat von der Solidarität der
Gesellschaftsklassen eine klarere Vorstellung, als die Feinde des Capitals,
welche in der That und in der Praxis auch die Feinde der Arbeit sind.

In der Bodenrententheorie steht Schäffle mit einem Fuße selbst auf dem
socialistischen Standpunkt, sucht aber die abstracte Theorie mit den Institutionen
der Wirklichkeit durch Anwendung genossenschaftlicher Formen zu vermitteln.
Er bekennt sich, in derselben Ricardo'schen Richtung, zu einer Malthus'schen
Angst vor Uebervölkerung, welche glücklicherweise geschichtlich nicht gerechtfer¬
tigt, sondern vollständig widerlegt ist, und beantragt, der vermeintlichen Gefahr
durch Paternitätsklcigen, Umänderung der Armengesetze nach der strengeren
Seite hin und durch eine Art älterlicher Kinderguts-Versicherungs-
Verpflichtung zu begegnen, welche letztere auf die ehemaligen Beschränkun¬
gen der Verehelichungsfreiheit hinaus läuft. So schlägt die socialistische Ten¬
denz auch bei dem gelehrten Professor in Unfreiheit und Reaction um.
Ueberall begegnen sich der alte und der neue Zwangs se aat und reichen
einander die Hände. Doch sie sind nicht mehr gefährlich, wenigstens nicht
für das Gemeinwesen. Einzelne Mitglieder des Arbeiterstandes mögen dem
Glauben an diese Theorien noch zum Opfer fallen; jeder Versuch der Ver¬
wirklichung führt diese Theorien so rasch aä absuräum, daß die gesunden
Grundsätze der Wissenschaft für jedes Opfer tausend Anhänger gewinnen.

Diese Verquickung mit reactionären oder staatsfeindlichen Tendenzen cha-
rakterisirt vorzugsweise die deutsche Socialistenschule, während die französische
durch die Erinnerungen an 1793 und durch die leidenschaftliche Genußsucht


des Erwerbes beschränken und die Gesellschaft nach einer unhistorischen Scha¬
blone von Oben oder von Unten construirend umgestalten wollen; auf der
anderen Seite steht die Wissenschaft der Volkswirthschaft, welche die imma¬
nenten Gesetze der Gütererzeugung und des Verkehrs erforschen und zur An¬
wendung bringen soll. Das Genossenschaftswesen und alle sonstigen vevnünf-
tigen Bestrebungen zur Hebung der niederen Classen fallen auf die Seite der
Volkswirthschaft und nicht auf die des Socialismus. In der Freiheit, welche
das Grundprincip der Volkswirthschaft ist, liegt das wesentlichste Element
der Krafterzeugung. So haben auch alle humanen Bestrebungen für die
leidenden Classen nur dauernden Werth, wenn und soweit sie an das System
der Selbsthülfe anknüpfen und selbstständige Kraft erzeugen oder befördern.
Heutzutage muß man den Muth haben, Volkswirthschaft und
Socialismus scharf von einander zu fondern und gegenüber
zu stellen. Jene Süßwasser-Socialisten aber, welche mit Worten spielend,
nach beiden Seiten schön thun, verwirren die Frage in politischer, wie in
ökonomischer Beziehung. Die „ultraliberale Principienreiterei," welche den
Staat auf das allgemeine Stimmrecht und die allgemeine Wehrpflicht, sowie
auf den obligatorischen Volksunterricht gründet, hat von der Solidarität der
Gesellschaftsklassen eine klarere Vorstellung, als die Feinde des Capitals,
welche in der That und in der Praxis auch die Feinde der Arbeit sind.

In der Bodenrententheorie steht Schäffle mit einem Fuße selbst auf dem
socialistischen Standpunkt, sucht aber die abstracte Theorie mit den Institutionen
der Wirklichkeit durch Anwendung genossenschaftlicher Formen zu vermitteln.
Er bekennt sich, in derselben Ricardo'schen Richtung, zu einer Malthus'schen
Angst vor Uebervölkerung, welche glücklicherweise geschichtlich nicht gerechtfer¬
tigt, sondern vollständig widerlegt ist, und beantragt, der vermeintlichen Gefahr
durch Paternitätsklcigen, Umänderung der Armengesetze nach der strengeren
Seite hin und durch eine Art älterlicher Kinderguts-Versicherungs-
Verpflichtung zu begegnen, welche letztere auf die ehemaligen Beschränkun¬
gen der Verehelichungsfreiheit hinaus läuft. So schlägt die socialistische Ten¬
denz auch bei dem gelehrten Professor in Unfreiheit und Reaction um.
Ueberall begegnen sich der alte und der neue Zwangs se aat und reichen
einander die Hände. Doch sie sind nicht mehr gefährlich, wenigstens nicht
für das Gemeinwesen. Einzelne Mitglieder des Arbeiterstandes mögen dem
Glauben an diese Theorien noch zum Opfer fallen; jeder Versuch der Ver¬
wirklichung führt diese Theorien so rasch aä absuräum, daß die gesunden
Grundsätze der Wissenschaft für jedes Opfer tausend Anhänger gewinnen.

Diese Verquickung mit reactionären oder staatsfeindlichen Tendenzen cha-
rakterisirt vorzugsweise die deutsche Socialistenschule, während die französische
durch die Erinnerungen an 1793 und durch die leidenschaftliche Genußsucht


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[0229] des Erwerbes beschränken und die Gesellschaft nach einer unhistorischen Scha¬ blone von Oben oder von Unten construirend umgestalten wollen; auf der anderen Seite steht die Wissenschaft der Volkswirthschaft, welche die imma¬ nenten Gesetze der Gütererzeugung und des Verkehrs erforschen und zur An¬ wendung bringen soll. Das Genossenschaftswesen und alle sonstigen vevnünf- tigen Bestrebungen zur Hebung der niederen Classen fallen auf die Seite der Volkswirthschaft und nicht auf die des Socialismus. In der Freiheit, welche das Grundprincip der Volkswirthschaft ist, liegt das wesentlichste Element der Krafterzeugung. So haben auch alle humanen Bestrebungen für die leidenden Classen nur dauernden Werth, wenn und soweit sie an das System der Selbsthülfe anknüpfen und selbstständige Kraft erzeugen oder befördern. Heutzutage muß man den Muth haben, Volkswirthschaft und Socialismus scharf von einander zu fondern und gegenüber zu stellen. Jene Süßwasser-Socialisten aber, welche mit Worten spielend, nach beiden Seiten schön thun, verwirren die Frage in politischer, wie in ökonomischer Beziehung. Die „ultraliberale Principienreiterei," welche den Staat auf das allgemeine Stimmrecht und die allgemeine Wehrpflicht, sowie auf den obligatorischen Volksunterricht gründet, hat von der Solidarität der Gesellschaftsklassen eine klarere Vorstellung, als die Feinde des Capitals, welche in der That und in der Praxis auch die Feinde der Arbeit sind. In der Bodenrententheorie steht Schäffle mit einem Fuße selbst auf dem socialistischen Standpunkt, sucht aber die abstracte Theorie mit den Institutionen der Wirklichkeit durch Anwendung genossenschaftlicher Formen zu vermitteln. Er bekennt sich, in derselben Ricardo'schen Richtung, zu einer Malthus'schen Angst vor Uebervölkerung, welche glücklicherweise geschichtlich nicht gerechtfer¬ tigt, sondern vollständig widerlegt ist, und beantragt, der vermeintlichen Gefahr durch Paternitätsklcigen, Umänderung der Armengesetze nach der strengeren Seite hin und durch eine Art älterlicher Kinderguts-Versicherungs- Verpflichtung zu begegnen, welche letztere auf die ehemaligen Beschränkun¬ gen der Verehelichungsfreiheit hinaus läuft. So schlägt die socialistische Ten¬ denz auch bei dem gelehrten Professor in Unfreiheit und Reaction um. Ueberall begegnen sich der alte und der neue Zwangs se aat und reichen einander die Hände. Doch sie sind nicht mehr gefährlich, wenigstens nicht für das Gemeinwesen. Einzelne Mitglieder des Arbeiterstandes mögen dem Glauben an diese Theorien noch zum Opfer fallen; jeder Versuch der Ver¬ wirklichung führt diese Theorien so rasch aä absuräum, daß die gesunden Grundsätze der Wissenschaft für jedes Opfer tausend Anhänger gewinnen. Diese Verquickung mit reactionären oder staatsfeindlichen Tendenzen cha- rakterisirt vorzugsweise die deutsche Socialistenschule, während die französische durch die Erinnerungen an 1793 und durch die leidenschaftliche Genußsucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/229>, abgerufen am 24.07.2024.