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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Beihülfe zu Abrundung der Definitionen/ Klärung der Principien, Aus¬
füllung der Lücken, hervorgeholt hat. Mitunter kann man sich allerdings
des Gedankens nicht erwehren, daß die Verweisung auf die fördernde Unter¬
stützung der Wissenschaft zu denselben parlamentarischen Aushülfsmitteln ge¬
hört, wie bei andern Gelegenheiten deren geringschätzige Verachtung, mit der
der Wissenschaft entnommene Gründe oder Zweifel als graue Theorie, Pro-
fefsorenweisheit, Doctorfragen verworfen werden.

Indessen wir können darüber leicht hinweggehen. Soviel steht fest, daß
wir dagegen wünschen müssen, aus dem einheitlichen Strafrechtsgesetz eine
nationale Strafrechtswissenschaft und Strafrechtslehre entspringen zu sehen,
die lange genug entbehrt worden ist.

Vergegenwärtigen wir uns einmal die Stellung, welche die Doctrin der
Gesetzgebung gegenüber bis dahin einnahm. Eine kurze Betrachtung erscheint
zu lehrreich für die Erkenntniß dessen, was zu wahrer wissenschaftlicher Pflege
erforderlich ist, als daß wir sie übergehen könnten. Fast in allen deutschen
Staaten waren im Laufe der letzten Jahrzehnte Strafrechtscodificationen vor¬
genommen worden. Nur wenige Länder hatten ganz und gar oder doch zum
größten Theil das sogenannte gemeine Recht, formell noch immer auf der
Grundlage der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. ruhend, er¬
halten und einem strafrechtlich codificirten Preußen, Sachsen oder Thüringer
schauderte oft die Haut, wenn er der bejammernswerthen, barbarischen Nach¬
barstaaten gedachte, die sich von Rechtswegen noch nach der Carolina sollten
rädern, brennen, hängen und ersäufen lassen. Es ist hier nicht der Ort, zu
untersuchen, mit welchem Recht oder Unrecht so viel Mitleid gerade von
dieser nach jener Seite hin herrschte. Dennoch geht uns die Thatsache an.
Der Umstand, daß das gemeine Recht so sehr als Schreckbild aus nebelgrauer
Ferne allen denen vor Augen stand, die unter einem modernen Codex lebten,
zeigt deutlich, wie durch die Codification der Rechtsanschauung eine ganz
andere Basis gegeben war. -- Folgeweise theilte sich auch die Strafrechts¬
lehre. Wo das gemeine Recht fortgalt oder für das Bedürfniß der gemein¬
rechtlichen Länder war etwas Anderes erforderlich, wie für die mit Strafge¬
setzbüchern versehenen Länder. Dort erschien es noch immer geboten, aus dem
römischen und älteren deutschen Recht, insonderheit aus der Urquelle der
Halsgerichtsordnung zu deduciren und zu interpretiren, obwohl auch schon in
den Vorträgen der Criminalprofessoren dasselbe Ding eine gewaltige Rolle
spielte, dessen Macht später der Praktiker in noch ganz anderem Umfange
kennen lernte: die Praxis, von der sich ehrlich gestanden sagen ließ, daß sie
längst fast keinen Stein mehr von dem übrig gelassen hatte, was streng ge¬
nommen die angeblich noch immer gültigen Quellen besagten. Hier da¬
gegen war vor allen Dingen Werth zu legen auf das Kennen und Durch-


Beihülfe zu Abrundung der Definitionen/ Klärung der Principien, Aus¬
füllung der Lücken, hervorgeholt hat. Mitunter kann man sich allerdings
des Gedankens nicht erwehren, daß die Verweisung auf die fördernde Unter¬
stützung der Wissenschaft zu denselben parlamentarischen Aushülfsmitteln ge¬
hört, wie bei andern Gelegenheiten deren geringschätzige Verachtung, mit der
der Wissenschaft entnommene Gründe oder Zweifel als graue Theorie, Pro-
fefsorenweisheit, Doctorfragen verworfen werden.

Indessen wir können darüber leicht hinweggehen. Soviel steht fest, daß
wir dagegen wünschen müssen, aus dem einheitlichen Strafrechtsgesetz eine
nationale Strafrechtswissenschaft und Strafrechtslehre entspringen zu sehen,
die lange genug entbehrt worden ist.

Vergegenwärtigen wir uns einmal die Stellung, welche die Doctrin der
Gesetzgebung gegenüber bis dahin einnahm. Eine kurze Betrachtung erscheint
zu lehrreich für die Erkenntniß dessen, was zu wahrer wissenschaftlicher Pflege
erforderlich ist, als daß wir sie übergehen könnten. Fast in allen deutschen
Staaten waren im Laufe der letzten Jahrzehnte Strafrechtscodificationen vor¬
genommen worden. Nur wenige Länder hatten ganz und gar oder doch zum
größten Theil das sogenannte gemeine Recht, formell noch immer auf der
Grundlage der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. ruhend, er¬
halten und einem strafrechtlich codificirten Preußen, Sachsen oder Thüringer
schauderte oft die Haut, wenn er der bejammernswerthen, barbarischen Nach¬
barstaaten gedachte, die sich von Rechtswegen noch nach der Carolina sollten
rädern, brennen, hängen und ersäufen lassen. Es ist hier nicht der Ort, zu
untersuchen, mit welchem Recht oder Unrecht so viel Mitleid gerade von
dieser nach jener Seite hin herrschte. Dennoch geht uns die Thatsache an.
Der Umstand, daß das gemeine Recht so sehr als Schreckbild aus nebelgrauer
Ferne allen denen vor Augen stand, die unter einem modernen Codex lebten,
zeigt deutlich, wie durch die Codification der Rechtsanschauung eine ganz
andere Basis gegeben war. — Folgeweise theilte sich auch die Strafrechts¬
lehre. Wo das gemeine Recht fortgalt oder für das Bedürfniß der gemein¬
rechtlichen Länder war etwas Anderes erforderlich, wie für die mit Strafge¬
setzbüchern versehenen Länder. Dort erschien es noch immer geboten, aus dem
römischen und älteren deutschen Recht, insonderheit aus der Urquelle der
Halsgerichtsordnung zu deduciren und zu interpretiren, obwohl auch schon in
den Vorträgen der Criminalprofessoren dasselbe Ding eine gewaltige Rolle
spielte, dessen Macht später der Praktiker in noch ganz anderem Umfange
kennen lernte: die Praxis, von der sich ehrlich gestanden sagen ließ, daß sie
längst fast keinen Stein mehr von dem übrig gelassen hatte, was streng ge¬
nommen die angeblich noch immer gültigen Quellen besagten. Hier da¬
gegen war vor allen Dingen Werth zu legen auf das Kennen und Durch-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/222>, abgerufen am 24.07.2024.