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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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dringen des neuen Gesetzbuchs. Es galt, dessen positive Bestimmungen aus¬
zulegen. Mit den Artikeln des neuen Gesetzbuchs war die Brücke nach der
Vergangenheit hin abgebrochen. Mochten noch so viele Zusammenhänge sich
erweisen lassen, dem praktischen Bedürfniß, wie der theoretischen Darlegung,
die in dem geschriebenen Codex ihr Fundament erblicken mußten, bot alles
Voranliegcnde im Ganzen nur noch antiquarisches Interesse. Was konnten
römisches, deutsches, gemeines Recht mit seinen Lehrmeinungen und Kontro¬
versen noch wiegen! Statt dessen warf man sich auf die genaue Interpreta¬
tion der Gesetzesworte, auf Casuistik, auf den Nachweis äußerer Zusammen¬
hänge, kurz auf das, was, wenn es auch nicht gerade Artikel für Artikel vor¬
nimmt, sondern in systematischer Form und Folge auftritt, doch dem Inhalte
nach eine commentarische Bearbeitung des positiven Gesetzes darstellt.

Auf der einen Seite hatte es, abgesehen von dem unmittelbar praktischen
Nutzen für das Volk, oder vielmehr die Völker dieser deutschen Staaten, ge¬
wiß sein Gutes, den großentheils höchst unersprießlicher Wust historischen
Stoffs, den die Lehre des gemeinen Strafrechts mit sich schleppte, los zu wer¬
den. Aber auf der andern Seite erwuchs auch aus den Gesetzbüchern schwere
Gefahr. Man weiß, wie sie beschaffen waren. Man braucht nur diese
zwingenden Begriffsbestimmungen, diese den Chausseegeld- oder Zolltarifen ver¬
gleichbaren Strafandrohungen anzusehen, um zu begreifen, daß Codificationen
solchen Styls geeignet sind, jede geistige Freiheit und damit jede wahre Ge¬
rechtigkeit des Urtheils zu ersticken, in Praxis und Theorie eine mechanische
Unteroffiziersjurisprudenz herbeizuführen, die kaum noch auf den Namen der
Wissenschaftlichkeit Anspruch hat.

Die Praxis, die einst in schwülstiger Gelehrsamkeit sich ergangen hatte,
gerieth nun in Gefahr, in dürrer Wortklauberei ihren einzigen Beruf zu fin¬
den, jede historische Erinnerung und das Bedürfniß tieferer rationeller Be¬
gründung zu vergessen. Die Theorie sah sich zu dem Bekenntniß genöthigt,
daß eine vollkommen neue Construction der Strafrechtslehre erst gewonnen
werden müsse. Mit dem alten System ging es nicht mehr, das ergab sich
bald; und jeder denkende Criminalist sprach von einem auf ganz anderen
Fundamenten auszuführenden Neubau der Strafrechtswissenschaft.

An emsiger Arbeit hat es nicht gefehlt. Wir besitzen eine Partie ganz
achtbarer Detailuntersuchungen, vergleichende Darstellungen der particulären
Strafbestimmungen jener Zeit, Versuche, nach dieser und jener Richtung hin
den geschichtlichen Faden aufzunehmen, und Anderes mehr. summiren wir
aber Alles zusammen, so sind es in der That doch höchstens Vorarbeiten zu
dem größeren Unternehmen, einer umfassenden wissenschaftlichen Gesammtdar-
stellung des Strafrechts.

Zu der Grundlegung einer neuen Strafrechtswissenschaft ist es, wie Jeder-


dringen des neuen Gesetzbuchs. Es galt, dessen positive Bestimmungen aus¬
zulegen. Mit den Artikeln des neuen Gesetzbuchs war die Brücke nach der
Vergangenheit hin abgebrochen. Mochten noch so viele Zusammenhänge sich
erweisen lassen, dem praktischen Bedürfniß, wie der theoretischen Darlegung,
die in dem geschriebenen Codex ihr Fundament erblicken mußten, bot alles
Voranliegcnde im Ganzen nur noch antiquarisches Interesse. Was konnten
römisches, deutsches, gemeines Recht mit seinen Lehrmeinungen und Kontro¬
versen noch wiegen! Statt dessen warf man sich auf die genaue Interpreta¬
tion der Gesetzesworte, auf Casuistik, auf den Nachweis äußerer Zusammen¬
hänge, kurz auf das, was, wenn es auch nicht gerade Artikel für Artikel vor¬
nimmt, sondern in systematischer Form und Folge auftritt, doch dem Inhalte
nach eine commentarische Bearbeitung des positiven Gesetzes darstellt.

Auf der einen Seite hatte es, abgesehen von dem unmittelbar praktischen
Nutzen für das Volk, oder vielmehr die Völker dieser deutschen Staaten, ge¬
wiß sein Gutes, den großentheils höchst unersprießlicher Wust historischen
Stoffs, den die Lehre des gemeinen Strafrechts mit sich schleppte, los zu wer¬
den. Aber auf der andern Seite erwuchs auch aus den Gesetzbüchern schwere
Gefahr. Man weiß, wie sie beschaffen waren. Man braucht nur diese
zwingenden Begriffsbestimmungen, diese den Chausseegeld- oder Zolltarifen ver¬
gleichbaren Strafandrohungen anzusehen, um zu begreifen, daß Codificationen
solchen Styls geeignet sind, jede geistige Freiheit und damit jede wahre Ge¬
rechtigkeit des Urtheils zu ersticken, in Praxis und Theorie eine mechanische
Unteroffiziersjurisprudenz herbeizuführen, die kaum noch auf den Namen der
Wissenschaftlichkeit Anspruch hat.

Die Praxis, die einst in schwülstiger Gelehrsamkeit sich ergangen hatte,
gerieth nun in Gefahr, in dürrer Wortklauberei ihren einzigen Beruf zu fin¬
den, jede historische Erinnerung und das Bedürfniß tieferer rationeller Be¬
gründung zu vergessen. Die Theorie sah sich zu dem Bekenntniß genöthigt,
daß eine vollkommen neue Construction der Strafrechtslehre erst gewonnen
werden müsse. Mit dem alten System ging es nicht mehr, das ergab sich
bald; und jeder denkende Criminalist sprach von einem auf ganz anderen
Fundamenten auszuführenden Neubau der Strafrechtswissenschaft.

An emsiger Arbeit hat es nicht gefehlt. Wir besitzen eine Partie ganz
achtbarer Detailuntersuchungen, vergleichende Darstellungen der particulären
Strafbestimmungen jener Zeit, Versuche, nach dieser und jener Richtung hin
den geschichtlichen Faden aufzunehmen, und Anderes mehr. summiren wir
aber Alles zusammen, so sind es in der That doch höchstens Vorarbeiten zu
dem größeren Unternehmen, einer umfassenden wissenschaftlichen Gesammtdar-
stellung des Strafrechts.

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[0223] dringen des neuen Gesetzbuchs. Es galt, dessen positive Bestimmungen aus¬ zulegen. Mit den Artikeln des neuen Gesetzbuchs war die Brücke nach der Vergangenheit hin abgebrochen. Mochten noch so viele Zusammenhänge sich erweisen lassen, dem praktischen Bedürfniß, wie der theoretischen Darlegung, die in dem geschriebenen Codex ihr Fundament erblicken mußten, bot alles Voranliegcnde im Ganzen nur noch antiquarisches Interesse. Was konnten römisches, deutsches, gemeines Recht mit seinen Lehrmeinungen und Kontro¬ versen noch wiegen! Statt dessen warf man sich auf die genaue Interpreta¬ tion der Gesetzesworte, auf Casuistik, auf den Nachweis äußerer Zusammen¬ hänge, kurz auf das, was, wenn es auch nicht gerade Artikel für Artikel vor¬ nimmt, sondern in systematischer Form und Folge auftritt, doch dem Inhalte nach eine commentarische Bearbeitung des positiven Gesetzes darstellt. Auf der einen Seite hatte es, abgesehen von dem unmittelbar praktischen Nutzen für das Volk, oder vielmehr die Völker dieser deutschen Staaten, ge¬ wiß sein Gutes, den großentheils höchst unersprießlicher Wust historischen Stoffs, den die Lehre des gemeinen Strafrechts mit sich schleppte, los zu wer¬ den. Aber auf der andern Seite erwuchs auch aus den Gesetzbüchern schwere Gefahr. Man weiß, wie sie beschaffen waren. Man braucht nur diese zwingenden Begriffsbestimmungen, diese den Chausseegeld- oder Zolltarifen ver¬ gleichbaren Strafandrohungen anzusehen, um zu begreifen, daß Codificationen solchen Styls geeignet sind, jede geistige Freiheit und damit jede wahre Ge¬ rechtigkeit des Urtheils zu ersticken, in Praxis und Theorie eine mechanische Unteroffiziersjurisprudenz herbeizuführen, die kaum noch auf den Namen der Wissenschaftlichkeit Anspruch hat. Die Praxis, die einst in schwülstiger Gelehrsamkeit sich ergangen hatte, gerieth nun in Gefahr, in dürrer Wortklauberei ihren einzigen Beruf zu fin¬ den, jede historische Erinnerung und das Bedürfniß tieferer rationeller Be¬ gründung zu vergessen. Die Theorie sah sich zu dem Bekenntniß genöthigt, daß eine vollkommen neue Construction der Strafrechtslehre erst gewonnen werden müsse. Mit dem alten System ging es nicht mehr, das ergab sich bald; und jeder denkende Criminalist sprach von einem auf ganz anderen Fundamenten auszuführenden Neubau der Strafrechtswissenschaft. An emsiger Arbeit hat es nicht gefehlt. Wir besitzen eine Partie ganz achtbarer Detailuntersuchungen, vergleichende Darstellungen der particulären Strafbestimmungen jener Zeit, Versuche, nach dieser und jener Richtung hin den geschichtlichen Faden aufzunehmen, und Anderes mehr. summiren wir aber Alles zusammen, so sind es in der That doch höchstens Vorarbeiten zu dem größeren Unternehmen, einer umfassenden wissenschaftlichen Gesammtdar- stellung des Strafrechts. Zu der Grundlegung einer neuen Strafrechtswissenschaft ist es, wie Jeder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/223>, abgerufen am 24.07.2024.