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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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soweit in eine Ordnung und Verbindung zu bringen, daß nothdürftig und
äußerlich das doctrinelle Gewissen sich beruhigen kann.

Allein bei Licht besehen ist gerade das, was ihr solche Noth macht, selbst
für die Lehre höchst heilsam. Wie viel Unrichtigkeiten nach jener alten Me¬
thode, welche lediglich von der doctrinären Definition aus schlußfolgert, zum
Vorschein kommen, hat die Erfahrung zur Genüge gelehrt. Nicht nur in
Lehrbüchern, fondern auch in der praktischen Politik wird damit Alles, selbst
das Unmögliche möglich gemacht. Ich will nur an ein jüngstes Beispiel er¬
innern. Man definire nur die Vertragsentstehung des Norddeutschen Bundes
und jetzt des Reiches so, wie von einigen Seiten her geschehen ist und die
berüchtigte Windthorst'sche Vertragstheorie ist fertig, das ganze Gebäude der
Verfassung wird durch diesen einen Begriff verschoben und in allen seinen Thei¬
len in die bedenklichste Stellung gebracht.

Angesichts der Thatsache, daß die Verfassung mit überlegter Absicht auf
theoretische Vollständigkeit und Systematik verzichtet, und Angesichts der Er¬
kenntniß, daß es nothwendig zu falschen Folgesätzen führen muß, wenn man
deßungeachtet die Grundlage traditioneller Schulbegriffe hineintragen will, sieht
sich die verständige Lehre auf ganz andere Bahnen verwiesen. Um wahr zu
sein, gerecht in dem Urtheil, richtig in den Schlußfolgerungen, hat sie die
Entstehung und die, wenn auch nur erst kurze Zeit umfassende Entwick¬
lung des Verfassungsrechtes als alleinigen Anhaltspunkt zu betrachten. Das
Staatsrecht will lediglich aus der Verfassung und den Gesetzen, wie sie wirk¬
lich sind, nicht wie sie nach abstracten Unterstellungen scheinen, abgeleitet sein;
und, was die Verfassung und die Gesetze sind, kann nur die getreue histo¬
rische Methode klar machen. Daß so die wissenschaftliche Darstellung von
ihrer seitherigen Art ab und zu einer echt realistischen Auffassung hingedrängt
wird, ist ein Gewinn, um den die Disciplin des Staatsrechts von andern
Nechtsdisciplinen füglich beneidet werden kann. Denn mit der bloßen doetri-
nellen Formel gründlich brechen und eine gesunde, praktische Methode ergrei¬
fen müssen, ist ein Vortheil, der andern Rechtsgebieten wenigstens nicht so
leicht und so rasch zu Theil werden wird.

Werfen wir weiter einen Blick auf die Strafrechtswissenschaft, so sieht
es dort in sofern ähnlich aus, als durch den Bundes-, jetzt Reichscodex der¬
selben eine feste Unterlage gegeben ist, die sie niemals verlassen kann. Das
in praktische Geltung getretene Gesetzbuch sammt allen seinen Commentaren
ist freilich an und für sich noch keine Wissenschaft, so wenig, wie die Ver¬
fassung und deren bloß beschreibende Darstellung schon ein Staatsrecht im
wissenschaftlichen Sinne ist. Dessen ist man sich bei der Abfassung des Straf¬
gesetzbuches so wohl bewußt gewesen, daß man an vielen schwachen Stellen immer
die Vertröstung auf die deutsche Strafrechtswissenschaft, auf ihre werkthätige


soweit in eine Ordnung und Verbindung zu bringen, daß nothdürftig und
äußerlich das doctrinelle Gewissen sich beruhigen kann.

Allein bei Licht besehen ist gerade das, was ihr solche Noth macht, selbst
für die Lehre höchst heilsam. Wie viel Unrichtigkeiten nach jener alten Me¬
thode, welche lediglich von der doctrinären Definition aus schlußfolgert, zum
Vorschein kommen, hat die Erfahrung zur Genüge gelehrt. Nicht nur in
Lehrbüchern, fondern auch in der praktischen Politik wird damit Alles, selbst
das Unmögliche möglich gemacht. Ich will nur an ein jüngstes Beispiel er¬
innern. Man definire nur die Vertragsentstehung des Norddeutschen Bundes
und jetzt des Reiches so, wie von einigen Seiten her geschehen ist und die
berüchtigte Windthorst'sche Vertragstheorie ist fertig, das ganze Gebäude der
Verfassung wird durch diesen einen Begriff verschoben und in allen seinen Thei¬
len in die bedenklichste Stellung gebracht.

Angesichts der Thatsache, daß die Verfassung mit überlegter Absicht auf
theoretische Vollständigkeit und Systematik verzichtet, und Angesichts der Er¬
kenntniß, daß es nothwendig zu falschen Folgesätzen führen muß, wenn man
deßungeachtet die Grundlage traditioneller Schulbegriffe hineintragen will, sieht
sich die verständige Lehre auf ganz andere Bahnen verwiesen. Um wahr zu
sein, gerecht in dem Urtheil, richtig in den Schlußfolgerungen, hat sie die
Entstehung und die, wenn auch nur erst kurze Zeit umfassende Entwick¬
lung des Verfassungsrechtes als alleinigen Anhaltspunkt zu betrachten. Das
Staatsrecht will lediglich aus der Verfassung und den Gesetzen, wie sie wirk¬
lich sind, nicht wie sie nach abstracten Unterstellungen scheinen, abgeleitet sein;
und, was die Verfassung und die Gesetze sind, kann nur die getreue histo¬
rische Methode klar machen. Daß so die wissenschaftliche Darstellung von
ihrer seitherigen Art ab und zu einer echt realistischen Auffassung hingedrängt
wird, ist ein Gewinn, um den die Disciplin des Staatsrechts von andern
Nechtsdisciplinen füglich beneidet werden kann. Denn mit der bloßen doetri-
nellen Formel gründlich brechen und eine gesunde, praktische Methode ergrei¬
fen müssen, ist ein Vortheil, der andern Rechtsgebieten wenigstens nicht so
leicht und so rasch zu Theil werden wird.

Werfen wir weiter einen Blick auf die Strafrechtswissenschaft, so sieht
es dort in sofern ähnlich aus, als durch den Bundes-, jetzt Reichscodex der¬
selben eine feste Unterlage gegeben ist, die sie niemals verlassen kann. Das
in praktische Geltung getretene Gesetzbuch sammt allen seinen Commentaren
ist freilich an und für sich noch keine Wissenschaft, so wenig, wie die Ver¬
fassung und deren bloß beschreibende Darstellung schon ein Staatsrecht im
wissenschaftlichen Sinne ist. Dessen ist man sich bei der Abfassung des Straf¬
gesetzbuches so wohl bewußt gewesen, daß man an vielen schwachen Stellen immer
die Vertröstung auf die deutsche Strafrechtswissenschaft, auf ihre werkthätige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/221>, abgerufen am 24.07.2024.