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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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ständige Entwickeln halbwegs zur Verzweiflung gebracht wird, fragt Nie¬
mand.

Indessen, mag es auch hier und da der Doctrin schwer fallen, die rechte
Stimmung für die Behandlung des neuen Staatsrechts zu finden, die That¬
sache, daß ein neues nationales Staatsrecht existirt, anerkannt und gelehrt
werden muß, ist von zwingender Nothwendigkeit. Hier ist eine dem natio¬
nalen Recht zugewandte Lehre nicht nur angezeigt, sondern unvermeidlich.
Ob willig, oder nicht, der Staatsrechtsmann muß sich doch mitten in das
geltende Recht hineinstellen; er kann es nicht bei Seite lassen und sich auf
das Alte zurückziehen, nachdem durch die Neugestaltung Deutschlands die
Brücke zwischen dem alten und dem neuen Rechtszustand gründlich abgebrochen
worden ist. In diesem Zweige der Lehre ist keine Sorge nöthig, daß die
historische Schule Schaden anrichten möchte. Nach wie vor wird auch das
Staatsrecht geschichtliche Erörterung verdienen und finden. Man wird zeigen
und zeigen müssen, wie die Zustände des öffentlichen Rechts bei den Deutschen
und andern Völkern waren, und wird nicht blos der Ermittlung und Be¬
schreibung des thatsächlichen Befundes der Vergangenheit, sondern der echt
wissenschaftlichen, der höheren Aufgabe, welche in der Erkenntniß der wahren
Ursachen besteht, zugewendet bleiben; aber von der historischen Lehre auf diesen
Gebieten droht der Gegenwart keine Gefahr. Wer wird bei dem eingehend¬
sten Studium der Vergangenheit daran denken, aus dem Rechte des' Römer-
reichs oder des Römischen Reichs deutscher Nation praktische Sätze für unser
heutiges öffentliches Recht oder überhaupt aus der Vergangenheit mehr, als
geschichtliche Beispiele und geschichtliche Belehrung zu gewinnen?

So sehr die Darstellung des Staatsrechts durchweg der Gegenwart zu¬
gewendet, mit dem geltenden Recht beschäftigt sein muß, wird es freilich einen
großen Unterschied machen, in welchem Geiste dies geschieht. Es gibt da
viele Schattirungen, die in der juristischen Gelehrtenwelt ihre Vertreter haben
mögen. Ich weiß nicht, ob es sogar solche noch gibt, die mit nur wider¬
willigen Herzen, mit sauertöpfischer Miene und mit unverwüstlichem Zopf
das Staatsrecht der wiedererstandenen Nation nach derselben trockenen Manier
behandeln, wie das alte Reichs- und Bundesrecht behandelt worden ist. Aber
das weiß ich gewiß, daß den Theoretikern des Staatsrechts jetzt vor allen
Dingen noththut, an der praktischen Entwicklung der öffentlichen Zustände,
wenigstens als aufmerksame und scharfsichtige Beobachter lebendigen Antheil
zu nehmen. Ein Staatsrechtsbuch oder ein Staatsrechtsheft kann allein aus
dem gelehrten Studium nicht mehr hervorwachsen. Soll es getreu wieder¬
geben, was ist, soll es zu der Gestaltung eines deutschen Rechts, wie sie
als hohes Ziel der Wissenschaft vorschweben muß, Etwas beitragen, soll es
zum Nutzen der Nation zeigen, was weiter zu thun und zu lassen ist, --


ständige Entwickeln halbwegs zur Verzweiflung gebracht wird, fragt Nie¬
mand.

Indessen, mag es auch hier und da der Doctrin schwer fallen, die rechte
Stimmung für die Behandlung des neuen Staatsrechts zu finden, die That¬
sache, daß ein neues nationales Staatsrecht existirt, anerkannt und gelehrt
werden muß, ist von zwingender Nothwendigkeit. Hier ist eine dem natio¬
nalen Recht zugewandte Lehre nicht nur angezeigt, sondern unvermeidlich.
Ob willig, oder nicht, der Staatsrechtsmann muß sich doch mitten in das
geltende Recht hineinstellen; er kann es nicht bei Seite lassen und sich auf
das Alte zurückziehen, nachdem durch die Neugestaltung Deutschlands die
Brücke zwischen dem alten und dem neuen Rechtszustand gründlich abgebrochen
worden ist. In diesem Zweige der Lehre ist keine Sorge nöthig, daß die
historische Schule Schaden anrichten möchte. Nach wie vor wird auch das
Staatsrecht geschichtliche Erörterung verdienen und finden. Man wird zeigen
und zeigen müssen, wie die Zustände des öffentlichen Rechts bei den Deutschen
und andern Völkern waren, und wird nicht blos der Ermittlung und Be¬
schreibung des thatsächlichen Befundes der Vergangenheit, sondern der echt
wissenschaftlichen, der höheren Aufgabe, welche in der Erkenntniß der wahren
Ursachen besteht, zugewendet bleiben; aber von der historischen Lehre auf diesen
Gebieten droht der Gegenwart keine Gefahr. Wer wird bei dem eingehend¬
sten Studium der Vergangenheit daran denken, aus dem Rechte des' Römer-
reichs oder des Römischen Reichs deutscher Nation praktische Sätze für unser
heutiges öffentliches Recht oder überhaupt aus der Vergangenheit mehr, als
geschichtliche Beispiele und geschichtliche Belehrung zu gewinnen?

So sehr die Darstellung des Staatsrechts durchweg der Gegenwart zu¬
gewendet, mit dem geltenden Recht beschäftigt sein muß, wird es freilich einen
großen Unterschied machen, in welchem Geiste dies geschieht. Es gibt da
viele Schattirungen, die in der juristischen Gelehrtenwelt ihre Vertreter haben
mögen. Ich weiß nicht, ob es sogar solche noch gibt, die mit nur wider¬
willigen Herzen, mit sauertöpfischer Miene und mit unverwüstlichem Zopf
das Staatsrecht der wiedererstandenen Nation nach derselben trockenen Manier
behandeln, wie das alte Reichs- und Bundesrecht behandelt worden ist. Aber
das weiß ich gewiß, daß den Theoretikern des Staatsrechts jetzt vor allen
Dingen noththut, an der praktischen Entwicklung der öffentlichen Zustände,
wenigstens als aufmerksame und scharfsichtige Beobachter lebendigen Antheil
zu nehmen. Ein Staatsrechtsbuch oder ein Staatsrechtsheft kann allein aus
dem gelehrten Studium nicht mehr hervorwachsen. Soll es getreu wieder¬
geben, was ist, soll es zu der Gestaltung eines deutschen Rechts, wie sie
als hohes Ziel der Wissenschaft vorschweben muß, Etwas beitragen, soll es
zum Nutzen der Nation zeigen, was weiter zu thun und zu lassen ist, —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/220>, abgerufen am 24.07.2024.