Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ben mag, begründet, oder am meisten begründet erscheinen, ist gleichgültig.
Genug, daß keineswegs eine Musterehe zwischen Theorie und Praxis ge¬
führt wird.

Unter solchen Umständen ist denn nicht zu verwundern, wenn auch die
neuere Gesetzgebung in keiner besonders glücklichen Beziehung zu der Doctrin
steht. Liegt doch die Bearbeitung der Gesetzesvorlagen regelmäßig in der
Hand von Praktikern und hat doch bei der Beschlußfassung das theoretisch¬
wissenschaftliche Urtheil in der Regel ebenso wenig eine maßgebende Stimme,
wie die theoretisch-wissenschaftliche Kritik in den parlamentarischen Debatten
ein günstiges Terrain findet. Auf die Ansichten der Wissenschaft oder auf
geschichtliche Fäden der Entwicklung hinzuweisen, paßt wohl dann und wann
einmal diesem oder jenem Redner; wobei übrigens nicht selten sich zuträgt,
daß selbst höchst geschätzte (Kapacitäten wunderbare Sachen zum Besten ge¬
ben, die eben mit unterlaufen, ja sogar mit ihrer Folie tiefer historischer und
theoretischer Kenntniß auf Manche um so mehr absonderlichen Eindruck machen,
da sie in der Regel mit der unwiderstehlichsten Zuversicht ausgesprochen wer¬
den und da in dem Saale eines parlamentarischen Körpers Niemand eine
gründliche Berichtigung oder Widerlegung solcher Behauptungen unternehmen
Will und unternehmen kann. Mindestens ebenso häufig aber hat man aus
dem Munde von Reichstagsrednern und aus dem Munde der Regierungs-
commissare Aeußerungen über graue Theorie und Professorenweisheit gehört,
die deutlich bezeugen, wie weit man sich von dergleichen getrennt fühlt. Ich
würde sagen: wie weit man sich über den theoretischen Unsinn erhaben weiß
wollte ich mit solchen Aussprüchen rechten. Allein, ob sich zwar meines un¬
maßgeblichen Erachtens leicht zeigen ließe, daß derlei absprechende und selbst¬
bewußte Meinungen besser in der Stille blieben, und daß Minister und Volks¬
vertreter immerhin Ursache hätten, von der Schule, ohne die sie niemals ihre
eigene Größe erlangt haben würden, etwas besser zu denken, kommt es mir
doch abermals nur darauf an, von dem Verhältniß Act zu nehmen, welches
thatsächlich vorhanden ist.

Die Folgen ergeben sich von selbst. Bei der Schwerfälligkeit der Theorie,
die allzulange hinter dem Bedürfniß des Lebens zurückgeblieben ist und großen-
theils noch heute zurückbleibt, gewöhnt sich die Gesetzgebung-naturgemäß daran,
immer mehr Schulbegriffe und theoretische Bedenken hintanzusetzen. Sie schnei¬
det kühn in das Zeug, geht ihre eigenen Bahnen und überläßt es, indem sie
das nothwendig Erkannte schafft, wie man oft gehört hat, der Wissenschaft,
wenn es eine Codification ist, daraus etwas zu machen, was demnächst den
Namen eines wissenschaftlichen Rechtssystems verdient, oder, wenn es nur
eine einzelne Rechtsmaterie ist, mit der Einfügung in das Rechtssystem fertig
zu werden. Wie anders würde es aussehen, bestünde ein wahrhaftes Zu-


ben mag, begründet, oder am meisten begründet erscheinen, ist gleichgültig.
Genug, daß keineswegs eine Musterehe zwischen Theorie und Praxis ge¬
führt wird.

Unter solchen Umständen ist denn nicht zu verwundern, wenn auch die
neuere Gesetzgebung in keiner besonders glücklichen Beziehung zu der Doctrin
steht. Liegt doch die Bearbeitung der Gesetzesvorlagen regelmäßig in der
Hand von Praktikern und hat doch bei der Beschlußfassung das theoretisch¬
wissenschaftliche Urtheil in der Regel ebenso wenig eine maßgebende Stimme,
wie die theoretisch-wissenschaftliche Kritik in den parlamentarischen Debatten
ein günstiges Terrain findet. Auf die Ansichten der Wissenschaft oder auf
geschichtliche Fäden der Entwicklung hinzuweisen, paßt wohl dann und wann
einmal diesem oder jenem Redner; wobei übrigens nicht selten sich zuträgt,
daß selbst höchst geschätzte (Kapacitäten wunderbare Sachen zum Besten ge¬
ben, die eben mit unterlaufen, ja sogar mit ihrer Folie tiefer historischer und
theoretischer Kenntniß auf Manche um so mehr absonderlichen Eindruck machen,
da sie in der Regel mit der unwiderstehlichsten Zuversicht ausgesprochen wer¬
den und da in dem Saale eines parlamentarischen Körpers Niemand eine
gründliche Berichtigung oder Widerlegung solcher Behauptungen unternehmen
Will und unternehmen kann. Mindestens ebenso häufig aber hat man aus
dem Munde von Reichstagsrednern und aus dem Munde der Regierungs-
commissare Aeußerungen über graue Theorie und Professorenweisheit gehört,
die deutlich bezeugen, wie weit man sich von dergleichen getrennt fühlt. Ich
würde sagen: wie weit man sich über den theoretischen Unsinn erhaben weiß
wollte ich mit solchen Aussprüchen rechten. Allein, ob sich zwar meines un¬
maßgeblichen Erachtens leicht zeigen ließe, daß derlei absprechende und selbst¬
bewußte Meinungen besser in der Stille blieben, und daß Minister und Volks¬
vertreter immerhin Ursache hätten, von der Schule, ohne die sie niemals ihre
eigene Größe erlangt haben würden, etwas besser zu denken, kommt es mir
doch abermals nur darauf an, von dem Verhältniß Act zu nehmen, welches
thatsächlich vorhanden ist.

Die Folgen ergeben sich von selbst. Bei der Schwerfälligkeit der Theorie,
die allzulange hinter dem Bedürfniß des Lebens zurückgeblieben ist und großen-
theils noch heute zurückbleibt, gewöhnt sich die Gesetzgebung-naturgemäß daran,
immer mehr Schulbegriffe und theoretische Bedenken hintanzusetzen. Sie schnei¬
det kühn in das Zeug, geht ihre eigenen Bahnen und überläßt es, indem sie
das nothwendig Erkannte schafft, wie man oft gehört hat, der Wissenschaft,
wenn es eine Codification ist, daraus etwas zu machen, was demnächst den
Namen eines wissenschaftlichen Rechtssystems verdient, oder, wenn es nur
eine einzelne Rechtsmaterie ist, mit der Einfügung in das Rechtssystem fertig
zu werden. Wie anders würde es aussehen, bestünde ein wahrhaftes Zu-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126489"/>
          <p xml:id="ID_652" prev="#ID_651"> ben mag, begründet, oder am meisten begründet erscheinen, ist gleichgültig.<lb/>
Genug, daß keineswegs eine Musterehe zwischen Theorie und Praxis ge¬<lb/>
führt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_653"> Unter solchen Umständen ist denn nicht zu verwundern, wenn auch die<lb/>
neuere Gesetzgebung in keiner besonders glücklichen Beziehung zu der Doctrin<lb/>
steht. Liegt doch die Bearbeitung der Gesetzesvorlagen regelmäßig in der<lb/>
Hand von Praktikern und hat doch bei der Beschlußfassung das theoretisch¬<lb/>
wissenschaftliche Urtheil in der Regel ebenso wenig eine maßgebende Stimme,<lb/>
wie die theoretisch-wissenschaftliche Kritik in den parlamentarischen Debatten<lb/>
ein günstiges Terrain findet. Auf die Ansichten der Wissenschaft oder auf<lb/>
geschichtliche Fäden der Entwicklung hinzuweisen, paßt wohl dann und wann<lb/>
einmal diesem oder jenem Redner; wobei übrigens nicht selten sich zuträgt,<lb/>
daß selbst höchst geschätzte (Kapacitäten wunderbare Sachen zum Besten ge¬<lb/>
ben, die eben mit unterlaufen, ja sogar mit ihrer Folie tiefer historischer und<lb/>
theoretischer Kenntniß auf Manche um so mehr absonderlichen Eindruck machen,<lb/>
da sie in der Regel mit der unwiderstehlichsten Zuversicht ausgesprochen wer¬<lb/>
den und da in dem Saale eines parlamentarischen Körpers Niemand eine<lb/>
gründliche Berichtigung oder Widerlegung solcher Behauptungen unternehmen<lb/>
Will und unternehmen kann. Mindestens ebenso häufig aber hat man aus<lb/>
dem Munde von Reichstagsrednern und aus dem Munde der Regierungs-<lb/>
commissare Aeußerungen über graue Theorie und Professorenweisheit gehört,<lb/>
die deutlich bezeugen, wie weit man sich von dergleichen getrennt fühlt. Ich<lb/>
würde sagen: wie weit man sich über den theoretischen Unsinn erhaben weiß<lb/>
wollte ich mit solchen Aussprüchen rechten. Allein, ob sich zwar meines un¬<lb/>
maßgeblichen Erachtens leicht zeigen ließe, daß derlei absprechende und selbst¬<lb/>
bewußte Meinungen besser in der Stille blieben, und daß Minister und Volks¬<lb/>
vertreter immerhin Ursache hätten, von der Schule, ohne die sie niemals ihre<lb/>
eigene Größe erlangt haben würden, etwas besser zu denken, kommt es mir<lb/>
doch abermals nur darauf an, von dem Verhältniß Act zu nehmen, welches<lb/>
thatsächlich vorhanden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_654" next="#ID_655"> Die Folgen ergeben sich von selbst. Bei der Schwerfälligkeit der Theorie,<lb/>
die allzulange hinter dem Bedürfniß des Lebens zurückgeblieben ist und großen-<lb/>
theils noch heute zurückbleibt, gewöhnt sich die Gesetzgebung-naturgemäß daran,<lb/>
immer mehr Schulbegriffe und theoretische Bedenken hintanzusetzen. Sie schnei¬<lb/>
det kühn in das Zeug, geht ihre eigenen Bahnen und überläßt es, indem sie<lb/>
das nothwendig Erkannte schafft, wie man oft gehört hat, der Wissenschaft,<lb/>
wenn es eine Codification ist, daraus etwas zu machen, was demnächst den<lb/>
Namen eines wissenschaftlichen Rechtssystems verdient, oder, wenn es nur<lb/>
eine einzelne Rechtsmaterie ist, mit der Einfügung in das Rechtssystem fertig<lb/>
zu werden. Wie anders würde es aussehen, bestünde ein wahrhaftes Zu-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] ben mag, begründet, oder am meisten begründet erscheinen, ist gleichgültig. Genug, daß keineswegs eine Musterehe zwischen Theorie und Praxis ge¬ führt wird. Unter solchen Umständen ist denn nicht zu verwundern, wenn auch die neuere Gesetzgebung in keiner besonders glücklichen Beziehung zu der Doctrin steht. Liegt doch die Bearbeitung der Gesetzesvorlagen regelmäßig in der Hand von Praktikern und hat doch bei der Beschlußfassung das theoretisch¬ wissenschaftliche Urtheil in der Regel ebenso wenig eine maßgebende Stimme, wie die theoretisch-wissenschaftliche Kritik in den parlamentarischen Debatten ein günstiges Terrain findet. Auf die Ansichten der Wissenschaft oder auf geschichtliche Fäden der Entwicklung hinzuweisen, paßt wohl dann und wann einmal diesem oder jenem Redner; wobei übrigens nicht selten sich zuträgt, daß selbst höchst geschätzte (Kapacitäten wunderbare Sachen zum Besten ge¬ ben, die eben mit unterlaufen, ja sogar mit ihrer Folie tiefer historischer und theoretischer Kenntniß auf Manche um so mehr absonderlichen Eindruck machen, da sie in der Regel mit der unwiderstehlichsten Zuversicht ausgesprochen wer¬ den und da in dem Saale eines parlamentarischen Körpers Niemand eine gründliche Berichtigung oder Widerlegung solcher Behauptungen unternehmen Will und unternehmen kann. Mindestens ebenso häufig aber hat man aus dem Munde von Reichstagsrednern und aus dem Munde der Regierungs- commissare Aeußerungen über graue Theorie und Professorenweisheit gehört, die deutlich bezeugen, wie weit man sich von dergleichen getrennt fühlt. Ich würde sagen: wie weit man sich über den theoretischen Unsinn erhaben weiß wollte ich mit solchen Aussprüchen rechten. Allein, ob sich zwar meines un¬ maßgeblichen Erachtens leicht zeigen ließe, daß derlei absprechende und selbst¬ bewußte Meinungen besser in der Stille blieben, und daß Minister und Volks¬ vertreter immerhin Ursache hätten, von der Schule, ohne die sie niemals ihre eigene Größe erlangt haben würden, etwas besser zu denken, kommt es mir doch abermals nur darauf an, von dem Verhältniß Act zu nehmen, welches thatsächlich vorhanden ist. Die Folgen ergeben sich von selbst. Bei der Schwerfälligkeit der Theorie, die allzulange hinter dem Bedürfniß des Lebens zurückgeblieben ist und großen- theils noch heute zurückbleibt, gewöhnt sich die Gesetzgebung-naturgemäß daran, immer mehr Schulbegriffe und theoretische Bedenken hintanzusetzen. Sie schnei¬ det kühn in das Zeug, geht ihre eigenen Bahnen und überläßt es, indem sie das nothwendig Erkannte schafft, wie man oft gehört hat, der Wissenschaft, wenn es eine Codification ist, daraus etwas zu machen, was demnächst den Namen eines wissenschaftlichen Rechtssystems verdient, oder, wenn es nur eine einzelne Rechtsmaterie ist, mit der Einfügung in das Rechtssystem fertig zu werden. Wie anders würde es aussehen, bestünde ein wahrhaftes Zu-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/213
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/213>, abgerufen am 24.07.2024.