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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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und bald von den etwaigen Schäden seiner erlfertigen Entstehung befreit
werden kann.

Weit entfernt die Fluch der Rechtsgesetzgebung hemmen zu können, wer¬
den wir sie in den nächsten Jahren großartig steigen sehen. Die heute schon
sicher bevorstehenden oder angekündigten Arbeiten werden noch lange nicht den
Schluß machen. Mit der Menge des neuen Stoffs aber wird zugleich, und
das ist es, was uns an dieser Stelle beschäftigt, die Lage der juristischen
Wissenschaft und Lehre eine immer schwierigere; so sehr, daß eine ernstere
Erwägung ihrer Situation nur zu sehr angezeigt erscheint.

Wer die juristische Theorie und die juristische Praxis mit einiger Auf¬
merksamkeit vergleichend verfolgt hat, kennt den tiefen Riß, der zwischen bei¬
den besteht. Das zeigt sich schon in der Literatur. Man könnte leicht da"
thun, wie scharf sich die rein für Theoretiker geschriebenen Darstellungen von
den nur für die Praktiker berechneten Darstellungen unterscheiden. Zwar gibt
es genug Schriften gelehrten theoretischen Zuschnitts, die zugleich für den
praktischen Gebrauch, und umgekehrt vorwiegend auf die Praxis berechnete
Arbeiten, welche zugleich in das theoretisch-abstracte Gebiet hinübergreifen.
Allein die Existenz einer solchen Mittelstufe der Rechtsliteratur beweist we¬
nig für eine intime Freundschaft der Theorie und Praxis insgesammt. Sie
beweist nur, daß mitunter auch Theoretiker praktisch und Praktiker wissen¬
schaftlich zu arbeiten verstehen oder zu arbeiten versuchen. Selbst wenn die
Entscheidungsgründe mancher Gerichtshöfe noch fo prächtig mit Theorien und
wissenschaftlichen Citaten ausstaffirt werden, will das nicht viel besagen.

Nur derjenige, der von den Zuständen der andern Seite sehr mangelhaft
unterrichtet ist, kann sich einer Täuschung hingeben. Es ist einmal offen¬
kundige Thatsache, im großen Ganzen hat der Praktiker wenig Achtung vor
der Theorie, oft sogar eine souveräne Mißachtung. Und leider trägt es nicht
dazu bei, dieses Urtheil zu verbessern, wenn die Erfahrung lehrt, daß die
Sentenzen derjenigen Gerichte, die mit aller möglichen Wissenschaftlichkeit um
sich werfen, keineswegs an Werth, sei es auch nur an gelehrtem, geschweige
denn an Werth für die Herstellung des materiellen Rechts und für die Be¬
förderung des Nechtsbewußtseins im Volke, höher stehen, als die Werke einer
selbstbewußt rein aus Lebenserkenntniß und Uebung schöpfenden Praxis.
Braucht ferner gezeigt zu werden, wie wenig noch immer ein beträchtlicher
Theil der doctrinellen Wissenschaft sich um die Praxis kümmert? Bedarf es
des Hinweises darauf, wie oft der gereiftere Praktiker kopfschüttelnd die Summe
seiner durch die Praxis gewonnenen Rechtskenntniß mit der Summe dessen,
was ihn die Theorie gelehrt hat und immerfort lehren will, in Begleichung
bringt?

Welche von den Vorwürfen, die man solchergestalt gegen einander erde-


und bald von den etwaigen Schäden seiner erlfertigen Entstehung befreit
werden kann.

Weit entfernt die Fluch der Rechtsgesetzgebung hemmen zu können, wer¬
den wir sie in den nächsten Jahren großartig steigen sehen. Die heute schon
sicher bevorstehenden oder angekündigten Arbeiten werden noch lange nicht den
Schluß machen. Mit der Menge des neuen Stoffs aber wird zugleich, und
das ist es, was uns an dieser Stelle beschäftigt, die Lage der juristischen
Wissenschaft und Lehre eine immer schwierigere; so sehr, daß eine ernstere
Erwägung ihrer Situation nur zu sehr angezeigt erscheint.

Wer die juristische Theorie und die juristische Praxis mit einiger Auf¬
merksamkeit vergleichend verfolgt hat, kennt den tiefen Riß, der zwischen bei¬
den besteht. Das zeigt sich schon in der Literatur. Man könnte leicht da»
thun, wie scharf sich die rein für Theoretiker geschriebenen Darstellungen von
den nur für die Praktiker berechneten Darstellungen unterscheiden. Zwar gibt
es genug Schriften gelehrten theoretischen Zuschnitts, die zugleich für den
praktischen Gebrauch, und umgekehrt vorwiegend auf die Praxis berechnete
Arbeiten, welche zugleich in das theoretisch-abstracte Gebiet hinübergreifen.
Allein die Existenz einer solchen Mittelstufe der Rechtsliteratur beweist we¬
nig für eine intime Freundschaft der Theorie und Praxis insgesammt. Sie
beweist nur, daß mitunter auch Theoretiker praktisch und Praktiker wissen¬
schaftlich zu arbeiten verstehen oder zu arbeiten versuchen. Selbst wenn die
Entscheidungsgründe mancher Gerichtshöfe noch fo prächtig mit Theorien und
wissenschaftlichen Citaten ausstaffirt werden, will das nicht viel besagen.

Nur derjenige, der von den Zuständen der andern Seite sehr mangelhaft
unterrichtet ist, kann sich einer Täuschung hingeben. Es ist einmal offen¬
kundige Thatsache, im großen Ganzen hat der Praktiker wenig Achtung vor
der Theorie, oft sogar eine souveräne Mißachtung. Und leider trägt es nicht
dazu bei, dieses Urtheil zu verbessern, wenn die Erfahrung lehrt, daß die
Sentenzen derjenigen Gerichte, die mit aller möglichen Wissenschaftlichkeit um
sich werfen, keineswegs an Werth, sei es auch nur an gelehrtem, geschweige
denn an Werth für die Herstellung des materiellen Rechts und für die Be¬
förderung des Nechtsbewußtseins im Volke, höher stehen, als die Werke einer
selbstbewußt rein aus Lebenserkenntniß und Uebung schöpfenden Praxis.
Braucht ferner gezeigt zu werden, wie wenig noch immer ein beträchtlicher
Theil der doctrinellen Wissenschaft sich um die Praxis kümmert? Bedarf es
des Hinweises darauf, wie oft der gereiftere Praktiker kopfschüttelnd die Summe
seiner durch die Praxis gewonnenen Rechtskenntniß mit der Summe dessen,
was ihn die Theorie gelehrt hat und immerfort lehren will, in Begleichung
bringt?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/212>, abgerufen am 24.07.2024.